Freitag, 27. August 2021

BVerfG: Stets zu Diensten (Cicero)

Stets zu Diensten

Corona, Klima, Rundfunkbeitrag: „Karlsruhe“ entwickelt sich immer mehr zum Erfüllungsgehilfen der Politik. Für unsere Demokratie ist das brandgefährlich. Wohin steuert das Bundesverfassungsgericht?

Von 
Gerhard Strate

Gemeinsam erfolgreich.“ Unter diesem Motto startet der CDU-Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Rhein-Neckar im Jahre 2013 in seinen Wahlkampf. Das dazugehörige Plakat: eindrucksvoll. Es zeigt ihn zusammen mit der amtierenden Kanzlerin. Kein Blatt Papier scheint zwischen beide zu passen. Kein unnötiger Schnörkel stört den visuellen Eindruck vollkommener Eintracht. Die sparsame Andeutung eines huldvollen Schmunzelns der Dame ist für den erneuten Wahlerfolg des zum zweiten Mal antretenden Direktkandidaten vollkommen ausreichend.

2017 wird der Mann, dessen fast unsicheres Lächeln auszudrücken scheint, dass er sein Glück kaum zu fassen vermag, zum dritten Mal ins Parlament gewählt werden. Doch diesmal wird Prof. Dr. Stephan Harbarth seinen Abgeordnetenstuhl noch vor Ende der Legislaturperiode räumen. Denn am 22. November 2018 wird der Deutsche Bundestag den Juristen zum Richter des Bundesverfassungsgerichts küren, gefolgt von seiner Wahl zu dessen Vizepräsidenten durch den Bundesrat am 30. November 2018.

Corona-Maßnahmen – fehlende Zustimmung des Bundesrats

Am 22. Juni 2020 wurde Harbarth durch den Bundespräsidenten zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. Ein echter Glücksfall für die Regierung, deren Maßnahmen zur Abwehr der Corona-Pandemie sich nicht gerade allgemeiner Akzeptanz rühmen können. Schon in seiner Zeit als Vizepräsident hatte Harbarth keine Neigung zu mutigen Entscheidungen gezeigt.

Ob seine stoische Entschlossenheit zur Ablehnung fast aller Eilanträge und Verfassungsbeschwerden gegen Corona-Maßnahmen vom Bundesrat als Bewerbung für den Chefposten verstanden wurde, ist unbekannt. Geändert hat sie sich seit seiner Ernennung nicht: Die vorherrschende formelhafte Terminologie, für jedermann in den Pressemeldungen des Verfassungsgerichts nachlesbar, ist nicht immer elegant, aber durchaus wirksam: Erfolglose Eilanträge abgelehnt. Antrag auf einstweilige Anordnung abgelehnt. Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Antrag unzulässig. Antrag genügt nicht den Anforderungen. Nicht ausreichend substantiiert vorgetragen. Was Juristen eben schreiben, wenn sie sich der inhaltlichen Auseinandersetzung entziehen und eine eigene Agenda durchsetzen möchten.

Unmittelbar fühlbar wurde dies bei dem am 5. Mai 2021 gefassten Beschluss des Ersten Senats unter Vorsitz von Harbarth, mit dem Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Regelungen über Ausgangsbeschränkungen abgelehnt wurden. Das „Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, im Bundestag verabschiedet am 22. April 2021, hätte eigentlich der Zustimmung des Bundesrats bedurft. Die in Paragraf 28b Abs. 3 Satz 1 IfSG vorgesehenen Testungen von Schüler- und Lehrerschaft bei Durchführung von Präsenzunterricht erzeugten eine Kostenlast der Länder, weshalb eine Zustimmung des Bundesrats unabweisbar war (Art. 104a Abs. 3 GG). Diese Zustimmung jedoch gab es nicht. Die Frage, ob das Gesetz zustimmungspflichtig war, betrachtete der Senat zwar als berechtigt, seine acht Mitglieder sahen sich aber außerstande, diese überschaubare Rechtsfrage zu beantworten: „Die Beantwortung der damit verbundenen Fragen ist derzeit jedenfalls als offen einzustufen.“

Man muss sich das einmal vorstellen: Gemäß Artikel 78 GG kommt ein Gesetz zustande, wenn der Bundesrat zustimmt. Auch dann, wenn nur eine einzelne Vorschrift – wie hier der Paragraf 28b Abs. 3 Satz 1 IfSG zu den Testerfordernissen an den Schulen – die Zustimmungsbedürftigkeit auslöst, muss der Bundesrat dem Gesetz insgesamt ausdrücklich und unzweideutig zustimmen. Wird die Zustimmung nicht erklärt, ist das Gesetzgebungsverfahren nicht ordnungsgemäß abgeschlossen worden.

Für einen der vielen hoch qualifizierten Assistenten, die den Richtern des Verfassungsgerichts zuarbeiten, wäre die Lösung dieser offenen Rechtsfrage eine Sache von wenigen Stunden gewesen. Wenn dennoch die Richter des Bundesverfassungsgerichts sich „derzeit“ nicht in der Lage gesehen haben, die offene Frage der Zustimmungsbedürftigkeit zu klären, dann war dies eine unverhohlen politische Entscheidung. Man wollte nicht. „Derzeit.“

Einen offenen Einblick in seine Marschrichtung gewährte Stephan Harbarth in einem Interview, welches am 2. April 2021 im Redaktionsnetzwerk Deutschland veröffentlicht wurde: Unter der Überschrift „Präsident des Verfassungsgerichts verteidigt deutsche Corona-Politik“ wirbt er mit warmen Worten um Verständnis für die Maßnahmen der Regierung. Und schon am nächsten Tag legt er in der Bild-Zeitung nach, indem er Corona-Demonstranten ermahnt, mit dem Demonstrationsrecht „verantwortungsvoll umzugehen“.

Erklärt sich die schon an Arbeitsverweigerung grenzende Abneigung des Bundesverfassungsgerichts, geplagten Bürgern inmitten einer der schlimmsten politischen Krisen der bundesrepublikanischen Geschichte wenigstens hin und wieder wirksam Rechtsschutz zu gewähren, auch aus dem Denken des Parteisoldaten? Kann die Fraktionsdisziplin ablegen, wer seiner Partei alles verdankt? Genügt es, die Buchstaben des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zu erfüllen und flugs aus dem Bundestag auszuscheiden, um noch am selben Tag das Amt des Verfassungsrichters anzutreten? Kann plötzlich frei den Mund öffnen, wer neun Jahre lang klaglos den Kappzaum des Abgeordneten trug, um jetzt die Augenbinde der Justitia überzustreifen, als hätte er nie etwas anderes gekannt als richterliche Neutralität und Regierungsferne?


Noch wenige Wochen vor seinem Wechsel zum Verfassungsgericht klang der soeben in seinem Amt als Vizefraktionsvorsitzender bestätigte Harbarth fast schwärmerisch, als er anlässlich der Wahl von Ralph Brinkhaus zum Fraktionsvorsitzenden der Union im Bundestag mit leuchtenden Augen erklärte: „Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass der ganz überwältigende Teil unserer Fraktion weiterhin an der Spitze der Bundesregierung Angela Merkel erwünscht!“ Dieses trotzige Statement suchte die eklatante Niederlage der Kanzlerin zu bemänteln, welche ihren Wunschkandidaten Volker Kauder nicht mehr hatte durchsetzen können.

Kurz darauf vollzog der die Dame beschützende Läufer seine kühne Diagonale über das staatspolitische Schachbrett und sorgt seitdem von Karlsruhe aus für die notwendige Rückendeckung. Ob ein gemeinsames Abendessen sämtlicher Verfassungsrichter mit der Kanzlerin dazu beiträgt, den Eindruck wachsender Regierungsnähe zu zerstreuen? Diese Frage scheint sich gar nicht gestellt zu haben, als die Regierungschefin die Mitglieder beider Senate am 30. Juni 2021 leutselig ins Kanzleramt einlud, nur drei Wochen vor Beginn der Verhandlung einer gegen Merkel anhängigen Klage. Doch es ist völlig klar: Was formal als respektvolles Treffen zweier Verfassungsorgane firmiert, beinhaltet zumindest in diesem Fall auch die freudige Wiederbegegnung der Regierungschefin mit einem ihrer ehemals treuesten Parteisoldaten.

Rundfunkbeitrag – das Ende der Abgeordnetenfreiheit

Nicht immer werden Verfassungsbeschwerden mit formelhaften Floskeln zurückgewiesen, auch nicht unter der Leitung von Präsident Harbarth. Die im Fall der Corona-Politik so wirksamen Mittel der Ablehnung, Nichtannahme oder vorgeblichen Unzulässigkeit von Eingaben stehen in manch anderem Zusammenhang nicht zur Debatte. Dies gilt auch für die durch Pressemeldung verkündeten „Erfolgreichen Verfassungsbeschwerden zum Ersten Medienänderungsstaatsvertrag“, welche sich gegen die Weigerung des Landes Sachsen-Anhalt wandten, der Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 86 Cent pro Monat zuzustimmen. Kläger: die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.

Die Entscheidung des Ersten Senats zu diesem Thema zu lesen fällt schwer, denn in ihr spiegelt sich unverkennbar die erste Abendsonne einer schwindsüchtig gewordenen Demokratie. So heißt es in dem Beschluss:

„1.) Das Land Sachsen-Anhalt hat durch das Unterlassen seiner Zustimmung zum Ersten Staatsvertrag zur Änderung medienrechtlicher Staatsverträge vom 10. bis 17. Juni 2020 (Erster Medienänderungsstaatsvertrag) die Rundfunkfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt.

2.) Die Bestimmungen des Artikel 1 des Ersten Medienänderungsstaatsvertrags gelten vorläufig mit Wirkung vom 20. Juli 2021 bis zum Inkrafttreten einer staatsvertraglichen Neuregelung über die funktionsgerechte Finanzierung der Beschwerdeführer durch den Rundfunkbeitrag.

3.) Das Land Sachsen-Anhalt hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.“

Soll hier tatsächlich ein Landesparlament zu einem vom Verfassungsgericht diktierten Abstimmungsverhalten genötigt werden? Das ist vorerst gar nicht erforderlich: Das Verfassungsgericht setzt den fraglichen Teil des Ersten Medienänderungsstaatsvertrags einfach durch Anordnung ins Werk. „Bis zum Inkrafttreten einer staatsvertraglichen Neuregelung“, bei deren Aushandlung die Parlamentarier dann hoffentlich den Grundsatz beherzigen werden, dass ihr bedingungsloses Ja zu jeder gewünschten Erhöhung des Rundfunkbeitrags alternativlos ist.

„Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Dieser Grundsatz, festgehalten in Artikel 41 (2) der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt und unverzichtbarer Wesenskern jedes demokratischen Systems, ist mit dieser skandalös zu nennenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Makulatur.

Doch wie ist es eigentlich gekommen, dass die einfachen und klaren Grundsätze von Artikel 5 des Grundgesetzes zu einer Rechtfertigung des schnöden Abkassierens pervertieren konnten? Tatsächlich besagt Absatz 1 Satz 2 Folgendes: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.“ Ausschließlich aus diesem Satz konstruiert sich über eine spitzfindige Argumentationskette die Anspruchsgrundlage der öffentlich-­rechtlichen Medien auf ihre Finanzierung mittels zwangsweise erhobener Beiträge.

In politisch ruhigeren Zeiten wurde die Rundfunkabgabe von den meisten Bürgern gutmütig akzeptiert. Das galt besonders vor 2013, als die Gebühr noch gerätebezogen erhoben wurde und Rundfunkgeräte auch abgemeldet werden konnten. Mit der Umstellung auf den Rundfunkbeitrag als Haushaltsabgabe änderte sich dies schlagartig: Auch wer weder Fernseher noch Radio besitzt, wird seitdem zur Kasse gebeten. Dies hat ganz erheblichen negativen Einfluss auf die Qualität des Programms, denn nun feiert der dystopische Haltungsjournalismus fröhliche Urstände. Kein Wunder: Der frühere Kunde wurde zum Schuldner einer verkappten Steuer, des Rundfunkbeitrags, herabgewürdigt und ist reine Verfügungsmasse, weshalb es auf seine Meinung nicht mehr ankommt und selbst Einschaltquoten kaum noch interessant sind. Vertreiben Gendersternchen das gewohnte Publikum oder schaltet „Oma Umweltsau“ empört den Fernseher aus, so ist es auch recht: Zahlen müssen die Hinterwäldler ohnehin.

Die willkürliche Herleitung eines rigiden Finanzierungsmodells aus dem Grundgesetz widersprach schon immer in eklatanter Weise dessen freiheitlichem Geist. Wenn sich die Beschwerdeführer im vorliegenden Fall auf eine „gefestigte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung dahingehend“ berufen, „dass zugunsten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gegenüber dem Gesetzgeber eine aus der Rundfunkfreiheit abzuleitende verfassungsrechtliche Garantie der funktionsgerechten Finanzierung bestehe und dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Inhaber dieses Anspruchs seien“, müsste es dem Verfassungsgericht erst recht ein Ansporn sein zu überprüfen, ob dieses Finanzierungsmodell noch zu den modernen Gegebenheiten passt, die durch eine nie gekannte mediale Vielfalt charakterisiert sind. Denn das Grundgesetz selbst stellt keine Forderung nach einem besonders zu schützenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf. Die „Garantie der funktionsgerechten Finanzierung“ ist ein Kind des Bundesverfassungsgerichts, gehegt und gepflegt in immer neu sich wiederholenden und weiter ausgreifenden Gerichtsentscheidungen, mittlerweile groß, fast ein Monster geworden.

Die Zeit, in der es geboren wurde, gab seiner Existenz eine gewisse Berechtigung. Waren Funk und Fernsehen in ihren Anfängen mit einem Mangel an Frequenzen konfrontiert und schon deshalb aus technischen Gründen auf wenige mögliche Anbieter beschränkt, gibt es heute mit dem Internet unendlich viele Möglichkeiten, neue Kanäle ins Leben zu rufen. Hiervon machen auch zahlreiche Bürger Gebrauch, wie alleine die ständig wachsende Vielzahl der Youtube-Kanäle zeigt. Da das Grundgesetz, wie schon gesagt, nicht zwischen einzelnen Medien unterscheidet, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis Millionen aktiver Youtuber ebenfalls ihren Anteil vom Finanzierungskuchen verlangen.

Auf die Ablehnungsbegründung des Bundesverfassungsgerichts darf man heute schon gespannt sein. Sie dürfte jenseits selbstreferenzieller Floskeln derart schwer zu formulieren sein, dass auch hier hilfsweise die Unzulässigkeit des Antrags wird bemüht werden müssen. Das Grundgesetz unterscheidet nicht zwischen den verschiedenen Finanzierungsmodellen unterschiedlicher Medien und verlangt auch nicht die staatlich angeordnete Zwangsfinanzierung einzelner Leitmedien. Streng genommen besagt Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 GG lediglich eines: Der Staat hat nicht das Recht, Medien aller Art in ihrer Berichterstattung zu behindern. Bekräftigt wird diese Deutung durch den folgenden Absatz 1 Satz 3, der präzisiert: „Eine Zensur findet nicht statt.“

Im Übrigen: Wenn gelegentlich in der Rechtsprechung davon die Rede ist, im Interesse der Rundfunkteilnehmer seien die öffentlich-rechtlichen Anstalten natürlich bei ihren Ausgaben an die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gebunden, so sind das Ansprachen an die Galerie. Wer sie glauben will, sollte sich während der nächsten Berlinale um eine Eintrittskarte bei der „ARD Blue Hour“ bemühen. Dort gibt es für die geladenen Gäste Champagner quasi „vom Fass“. Eine Veranstaltung von fast ordinärer Opulenz.

Juristischer Surrealismus – die Klimaschutz-Entscheidung

Je nachdem, ob eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im internen nichtöffentlichen Verfahren gefällt wird oder eine öffentliche Verhandlung mit Anhörung durchgeführt wird, ergeht sie als Beschluss oder als Urteil. Ist das Thema von allgemeinem Interesse, sehr umfangreich und von starken Kontroversen begleitet, entscheidet sich das Verfassungsgericht in der Regel dafür, die Öffentlichkeit an dem Verfahren teilhaben zu lassen. Hierzu gehört meist auch die Anhörung verschiedener Sachverständiger, die das Thema durch ihre Gutachten pro und contra beleuchten. Eine Verfassungsbeschwerde, die in ihrer Konsequenz mal eben den kompletten Industriestandort Deutschland zur Disposition stellt, ist der denkbar beste Grund für ein ausführliches Verfahren mit maximaler Beteiligung der Öffentlichkeit.

Umso unverständlicher, dass die am 24. März 2021 ergangene Entscheidung über mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz als Beschluss gefasst wurde. Mit maximaler Diskretion zündete das Verfassungsgericht damit eine lautlose Bombe, deren verheerende Auswirkungen uns noch viele Jahre begleiten werden.

Gegenstand der Beschwerde waren die nach Ansicht der Kläger unzureichenden Maßnahmen der deutschen Bundesregierung zum Klimaschutz. In den Leitsätzen seines Beschlusses hält der Erste Senat unter seinem Vorsitzenden Harbarth fest:

„1.) Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen.“

Wie schon in Bezug auf Corona erfährt das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch hier seine dem Zeitgeist geschuldete fahrlässige Umdeutung. Was von den Vätern und Müttern der Verfassung nach bittersten Diktaturerfahrungen dazu konzipiert worden war, das Individuum vor Folter, politischem Mord und sonstigen staatlichen Übergriffen zu bewahren, verkommt mehr und mehr zur schnöden Vollkaskopolice, mit welcher der Staat alle möglichen absurden „Schutzpflichten“ an sich zieht. Diese durch pure Rabulistik in das Grundgesetz hineininterpretierten Pflichten des Staates ziehen jedoch unweigerlich auch das staatliche Recht zur Ausübung zahlreicher Repressalien nach sich. Wie auch sonst sollte man Virusinfektionen an der Ausbreitung hindern oder den CO2-Ausstoß maßgeblich reduzieren, wenn nicht durch massive, auf Dauer angelegte Einschränkungen der persönlichen Freiheit?

Die zur Durchsetzung notwendigen, teils robusten polizeilichen Maßnahmen bei Zuwiderhandlungen können sich sehr schnell ihrerseits zu einer Gefahr für das Leben und die körperliche Unversehrtheit entwickeln und das Grundrecht damit endgültig seines Wesensgehalts berauben. Analog zu Orwells „Freiheit ist Sklaverei“ stünde es dann als eine leere Worthülse vor uns, deren Bedeutung sich längst in ihr Gegenteil verkehrt hat.
Auch der zweite Leitsatz hat es in sich und ist ein beredtes Beispiel dafür, weshalb der Gesetzgeber sich mit der Definierung neuer Staatsziele im Grundgesetz tunlichst zurückhalten sollte. Er lautet:

„2.) Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität.“

Der 1994 nachträglich eingefügte Artikel 20a GG bezieht sich auf die staatliche Pflicht zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und eröffnet damit viel Raum für verschiedenste Interpretationen. Findigen Umweltverbänden mit Verbandsklagerecht bietet er durch seine Unbestimmtheit eine unendliche Spielwiese zur sukzessiven Ausgestaltung eines dystopischen Ökostaats über den spendenfinanzierten Rechtsweg.

Der Beschluss des Ersten Senats unter Vorsitz des neuen Präsidenten Harbarth wurde natürlich von den zuständigen Juristen sofort als „epochal“ gefeiert. Einige Zitate mögen als Pars pro Toto zeigen, wohin die Reise tatsächlich geht:

„Ein unbegrenztes Fortschreiten von Erderwärmung und Klimawandel stünde aber nicht im Einklang mit dem Grundgesetz. Dem steht neben den grundrechtlichen Schutzpflichten vor allem das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG entgegen, welches die Gesetzgebung – verfassungsrechtlich maßgeblich – durch das Ziel konkretisiert hat, die Erwärmung der Erde auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Dieser Temperaturschwelle entspricht ein, wenn auch nicht eindeutig quantifizierbares, aus dem globalen Restbudget abgeleitetes nationales CO2-Restbudget. Ist dieses nationale CO2-Budget aufgebraucht, dürften weitere CO2-Emissionen nur noch zugelassen werden, wenn das Interesse daran verfassungsrechtlich insbesondere gegenüber dem Klimaschutzgebot des Art. 20a GG überwiegt. Verhaltensweisen, die direkt oder indirekt mit CO2-Emissionen verbunden sind, wären also verfassungsrechtlich nur noch hinnehmbar, soweit sich die dahinterstehenden grundrechtlichen Freiheiten in der erforderlichen Abwägung durchsetzen könnten, wobei das relative Gewicht einer nicht klimaneutralen Freiheitsbetätigung in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter abnimmt.“ (Randnummer 120)

Damit ist der Grundstein für eine bizarre Situation gelegt, in der bereits das Einschalten der Heizung im Winter, der Verzehr einer Fleischmahlzeit oder ein Flug in den Urlaub in jedem Einzelfall Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Abwägung wird. Da passt es hinein, wenn an anderer Stelle davon die Rede ist, es könnten „selbst gravierende Freiheitseinbußen künftig zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und gerechtfertigt sein“. Dass mit derartigen Formulierungen ein Gewöhnungsprozess eingeläutet wird, dem die Bürger schon in den letzten anderthalb Jahren ausgesetzt waren, liegt nahe.

Wäre bloß im Jahre 1362 schon mit derartiger juristischer Sorgfalt an der CO2-Vermeidung gearbeitet worden: Die Siedlung Rungholt hätte nicht in den Fluten der Nordsee versinken müssen. Mit traumwandlerischer Sicherheit scheint sich das Verfassungsgericht auf den schwankenden Planken wissenschaftlich umstrittener Zahlengrundlagen zu bewegen. Ob die Erwärmung nun maximal 2 Grad Celsius oder besser doch nur 1,5 Grad Celsius betragen sollte und in welchen Tranchen das ab 2020 bis in alle Ewigkeiten verbleibende deutsche Restbudget möglicher CO2-Emissionen (es beträgt laut Entscheidungsbegründung des Bundesverfassungsgerichts genau 6,7 Gigatonnen) verteilt werden sollte: Dies zu präzisieren, gibt der Beschluss der Politik nun auf.

Wie viele Säcke die neuen Schildbürger jedoch brauchen werden, um die täglich benötigten Energiemengen in Form von Sonnenlicht in ihre Häuser zu tragen, darüber schweigt die Begründung sich aus. Dies zu ermitteln, obliegt wohl ebenfalls der Bundesregierung. Mitleid mit ihr ist jedoch fehl am Platz: Schon kurz nach der Verkündung des Beschlusses jubelte Wirtschaftsminister Altmaier: „Die Entscheidung gibt uns die Chance, für mehr Generationengerechtigkeit zu sorgen!“
Bei so viel Eintracht zwischen Gericht, Klägern und Beklagten ist erfahrungsgemäß höchste Wachsamkeit angesagt. Und dass bereits am 18. November mit dem Film „Ökozid“ ein ARD-Gerichtsdrama ausgestrahlt wurde, das die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fiktiv vorwegnahm, lässt erahnen, dass auch von den Leitmedien keine Kritik an der wirtschaftlichen Marginalisierung Deutschlands und seiner Bürger zu erwarten ist.

Quo vadis, Bundesverfassungsgericht?

Auch das beste Grundgesetz ist nur so gut wie die Menschen, die seinen Buchstaben Seele geben. Das aktuelle Abgleiten des Bundesverfassungsgerichts in die politische Justiz ist umso schmerzhafter, als Harbarths Vorgänger Voßkuhle seine Amtszeit mit einem fulminanten Schlusspunkt beenden konnte, der die Messlatte verfassungsrichterlicher Unabhängigkeit besonders hoch legt. Die Rede ist vom EZB-Urteil, mit welchem der unerschrockene Zweite Senat unter Vorsitz Voß­kuhles dem Europäischen Gerichtshof sowie dem Rat der Europäischen Zentralbank bescheinigte, ihre Befugnisse beim Ankauf von Staatsanleihen im Wert von mehr als 2,5 Billionen Euro überschritten zu haben.

Damit gab das Bundesverfassungsgericht dem Fass ohne Boden, soweit es in seiner Macht stand, neuen Grund. Dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der Bundesrepublik Deutschland daraufhin mit einem Vertragsverletzungsverfahren drohte, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Verfasstheit der EU und ihr Verhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit.
Dieses königliche Abschiedsgeschenk Voßkuhles an Deutschland nach einer überaus erfolgreichen Amtszeit macht die Fallhöhe besonders groß und zeigt auf, was wir zu verlieren im Begriff sind. Denn selbst höchste Rechtsgüter wie das Recht auf Leben oder die Pressefreiheit benötigen nur wenige Schnitte mit dem feinen juristischen Skalpell, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren.

Die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Berichterstattung als legitimer Anlass für die Errichtung eines rigiden Systems der Zwangsfinanzierung öffentlich-rechtlicher Medien nebst Entmachtung freier Abgeordneter? Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als selbstverständliche Begründung für Impfnötigung, Freiheitseinschränkungen und Polizeigewalt? Klimaschutz als Rechtfertigung von gravierenden Grundrechtseinbußen? Ist es das, was unter „gemeinsam erfolgreich“ zu verstehen ist?
Dem ist entgegenzuhalten: Ohne Luft und Licht ist Freiheit nicht möglich. Aber Luft und Licht ohne Freiheit sind des Lebens nicht wert. 

Gerhard Strate

ist einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger und Mitglied im Ausschuss für Verfassungsrecht der Bundes-rechtsanwaltskammer. Für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement wurde er 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Rostock mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet.

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