Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan
-
„Der Umgang mit den Ortskräften hat rassistische Züge“
Die deutschen Truppen ziehen aus Afghanistan ab, während die
Taliban auf dem Vormarsch sind. Ortskräfte, die mit der Bundeswehr
kooperiert haben, fühlen sich im Stich gelassen. Im Interview kritisiert
der ehemalige Offizier Daniel Lücking das Verhalten der Bundeswehr.
Daniel Lücking, Jahrgang 1979, hat Online-Journalismus in
Darmstadt und Kulturjournalismus in Berlin studiert. Er arbeitet als
Redakteur für nd.Der Tag. In seiner Zeit als Offizier bei der Bundeswehr
absolvierte er Auslandseinsätze in Kosovo und Afghanistan.
Herr Lücking, Sie waren zwischen 2005 und 2008 insgesamt elf Monate als Offizier in Afghanistan stationiert. Was genau haben Sie dort gemacht?
Ich habe ein Radio-Projekt geleitet, das die Bundeswehr gestartet hatte.
Während meines ersten Einsatzes war ich in Kundus, bei meinem zweiten
und dritten in Masar-i-Sharif.
Was waren Ihre Aufgaben?
Es gab dort eine Art Medienunternehmen, das aus Radio, Print, Video und
auch aus direkter Kommunikation bestand. Damit sollte die Bevölkerung
über den internationalen Truppen-Einsatz informiert werden – was gerade
passiert, welche lokalen Strukturen gestärkt werden sollen. Ich hatte in
meiner Redaktion sieben afghanische Kollegen und eine Kollegin und
parallel dazu noch Korrespondenten in den umliegenden Provinzen. Wir
sollten gut Wetter für den Einsatz machen, im Wesentlichen war das
Propaganda. Denn wir durften keinen freien Journalismus machen. Es gab
Tabuthemen.
Welche Themen waren das?
Meine Kollegen haben immer wieder betont, dass die Korruption das größte
Problem im Land war. Es gab zum Beispiel Passbehörden, in denen
Mitarbeiter massiv Schmiergelder kassiert haben, wenn sie Leuten, die
zum Arbeiten in den Iran oder Irak wollten, Papiere ausgestellt haben.
Darüber sollten wir nicht berichten.
Das war eine Auflage der Bundeswehr?
Ja, eine politische Auflage seitens der Bundeswehr-Programmplanung, die
aus Kabul kam. Das galt nicht nur für deutsche Soldaten, wir haben mit
Schweden und Engländern kooperiert. Alle bekamen die klare Ansage:
„Politiker sind nicht zu kritisieren, wir halten uns da raus.“ Jetzt,
mit dem Abstand von über zehn Jahren, weiß ich, dass wir damit auch ein
Teil dieser Korruption gewesen sind.
Inwiefern?
Wir haben potente Machthaber um uns geschart und mit ihnen kooperiert.
Bestes Beispiel ist Atta Mohammad Noor, der Gouverneur der Provinz
Balch, zu der die Stadt Masar-i-Sharif gehört. Er ist ein autoritärer
Politiker, der seine Umgebung knechtet, aber trotzdem von
internationalen Truppen profitiert hat. Er hat einmal „ganz großzügig“
der deutschen Botschaft ein Grundstück in Masar-i-Sharif geschenkt, auf
dem dann ein Botschaftsgebäude errichtet wurde. Eine Folge: Die Preise
für alle Grundstücke rund um die Botschaft stiegen – und die gehörten
alle ihm. Über seine Menschenrechtsverletzungen haben wir auch großzügig
hinweggesehen.
Haben Sie ein Beispiel?
Am 27. September 2008 gab es einen Angriff auf unser Camp in
Masar-i-Sharif. Es flogen Raketen und es gab Feuergefechte unweit des
Lagers. Es wurden auch Kampfflugzeuge eingesetzt, die aufklären sollten,
wer die Angreifer waren. Durch Zufall habe ich wenige Tage später aus
sicherer Quelle erfahren, dass ebendiese Angreifer von der ISAF (Die International Security Assistance Force war eine Sicherheits- und Wiederaufbaumission der Nato, Anm. d. Red.) festgenommen,
an die afghanischen Behörden übergeben und dann auf Geheiß des
Gouverneurs von einem Killerkommando einen Kopf kürzer gemacht wurden.
Wie haben Sie damals reagiert?
Das hat mich fassungslos zurückgelassen, weil ich als Offizier solchen
Dingen keinen Vorschub leisten wollte. Ich tröstete mich damals damit
darüber hinweg, dass wir eine Parlamentsarmee waren und das bestimmt zu
einem politischen Thema werden würde. Aber Jahre später erfuhr ich, dass
das Parlament überhaupt nicht informiert wurde. Nur ein paar Leute mit
sehr hoher Sicherheitseinstufung wussten Bescheid.
Wie haben Sie das erfahren?
Vier Jahre später, als ich die Uniform schon abgelegt hatte, bekam ich
Einblick in die Protokolle, die an den Bundestag gingen. Darin gab es
keine Hinweise auf diesen Vorfall. Der Angriff aufs Camp wurde zwar
geschildert, aber dessen Intensität war überhaupt nicht nachvollziehbar.
Ich konnte dann mit Hilfe der Linksfraktion eine Kleine Anfrage
stellen. Die Antwort hat nicht viel hergegeben, aber immerhin wurde
eingeräumt, dass die Angreifer festgenommen wurden. Allerdings hieß es,
man wisse nicht genau, was letztlich mit ihnen passiert war. Ich konnte
aber herausfinden, dass die Bundeswehr zu diesem Tag mindestens drei
verschiedene Schilderungen des Ereignisses geliefert hatte. Das roch
alles danach, dass etwas klein gekocht werden sollte. Vollständig
aufarbeiten kann man das wegen der Geheimhaltung aber nicht. Wir waren
20 Jahre in Afghanistan, da frage ich mich: Wie viele solcher Tage gab
es noch noch?
Die Wehrbeauftrage Eva Högl
erinnerte an die 59 deutschen Soldaten, die in Afghanistan getötet
wurden, nicht aber an die getöteten Afghanen. Ein bekanntes Beispiel ist
der Befehl eines deutschen Kommandeurs im September 2009, einen
Luftschlag gegen Tanklaster durchzuführen, die von Zivilisten umgeben
waren. Hunderte Menschen sind in der Nacht gestorben, darunter Kinder.
Wie viele Menschen wurden in den 20 Jahren getötet?
Dazu gibt es keine genauen Zahlen. Es gab aber auf jeden Fall noch viel
mehr solcher Ereignisse. Soldaten, die unter Druck standen, auf
herannahende Fahrzeuge schossen und damit Familien töteten. Und ich
möchte nicht wissen, was das Kommando Spezialkräfte (KSK) alles
angestellt hat. Die waren zusammen mit den US-Streitkräften unterwegs
und da dürfte es nicht zimperlich zugegangen sein. Diese Sachen werden
auf ewig unter Verschluss bleiben. Die afghanische Bevölkerung und die
Taliban wissen aber, wie sich deutsche und amerikanische Spezialkräfte
verhalten haben.
Was hat das KSK gemacht?
Als ich im Einsatz war, waren die sogenannten „Night Raids“ eine gängige
Methode – also das, was die Amerikaner auch im Irak gemacht haben. Sie
kamen nachts in die Städte, traten die Türen von Häusern ein und
verschleppten Männer ins Militärgefängnis, die sie als Taliban
verdächtigten. Dann wurden Hunde in die Häuser geschickt und die Häuser
verwüstet. Ich bekam in den Camps Hinweise darauf, dass das KSK
gemeinsam mit den US-Spezialkräften solche Operationen durchgeführt hat.
Aber auch das lässt sich nicht belegen, weil die ganzen Unterlagen
unter Verschluss sind. Wenn ich mich mit Mitgliedern des
Verteidigungsausschusses und mit Abgeordneten über deren
Informationslage unterhalte, kann ich nur sagen: Die ist desolat. Die
sind mitunter mal nach Afghanistan gereist, haben da aber nur gefilterte
Informationen bekommen. Im Wesentlichen haben unsere Abgeordneten von
den Einsätzen nur ein beschränktes Bild, nämlich das, was die
Bundesregierung zulässt. Von parlamentarischer Kontrolle kann da keine
Rede sein.
Nochmal zurück zu Ihrem Radiosender: Wäre es in irgendeiner Weise denkbar gewesen, kritischen Journalismus zu machen?
Nein, denn man kann nicht afghanische Behörden wegen Korruption in die
Mangel nehmen, wenn man selbst Motor der Korruption ist. Jedes
Hilfsprojekt, jede Brücke, jede Schule, die gebaut wurde, war eigentlich
doppelt so teuer, weil die Hälfte der Kosten in lokale Machtstrukturen
investiert werden musste, damit die Machthaber kooperierten und die
Brücke und die Schule nicht angegriffen wurden. Wir haben mit sehr viel
Geld um uns geschmissen, aber letztlich sehr unkoordiniert. Was
Afghanistan nach damals 30 Jahren Krieg gebraucht hätte, ist ein
Marshallplan zum langfristigen systematischen Wiederaufbau. Letztendlich
war das internationale Engagement nicht ernst gemeint.
Haben Sie noch Kontakt zu den Redakteuren von damals?
Zu einigen über Facebook. Manche von ihnen haben es mit Ende des
ISAF-Einsatzes 2014 nach Deutschland geschafft. Das sind jetzt aber auch
keine blühenden Existenzen. Einer ist inzwischen bei der Deutschen
Welle angekommen, andere sind mit ihren Familien in die
Hartz-IV-Versorgung gerutscht. Schon 2014 hat man keine Rücksicht auf
die Ortskräfte genommen. Manche Mitarbeiter kamen morgens zur Arbeit,
wurden von jetzt auf gleich entlassen, bekamen ein bisschen Cash und
mussten mittags das Camp verlassen. Darunter eine Redakteurin, eine
Kollegin von mir. Mit Anfang 30 war sie nach fast zehn Jahren Arbeit für
die ISAF mittlerweile westlich geprägt. Sie ging dann zurück an die Uni
in Masar-i-Scharif. Zwei Monate später klopfte es an ihrer Tür und
jemand schlitzte ihr die Kehle durch – weil sie zu westlich war, als
Frau studiert und für den Westen gearbeitet hatte.
In der Süddeutschen Zeitung erschien jüngst der Gastbeitrag eines afghanischen Dolmetschers,
der jahrelang für die Bundeswehr gearbeitet hat, nun angesichts der
vorrückenden Taliban um sein Leben fürchtet und sich von den Deutschen
im Stich gelassen fühlt. Das Verteidigungsministerium verkündete, man
sei sich „der Verantwortung gegenüber den Menschen bewusst, die uns
geholfen haben“, deswegen erhalten 446 Ortskräfte und ihre Familien
Reisedokumente. Warum fühlen sich Ortskräfte trotzdem im Stich gelassen?
Weil das alles völlig utopisch geregelt ist. Man hätte den Menschen zum
Ende des Einsatzes die Passpapiere geben und sie zusammen mit den
Truppen nach Deutschland holen müssen. Stattdessen sollen sie bis zu 400
Kilometer zur deutschen Botschaft nach Kabul fahren, die Papiere
ausfüllen, Flug und Umzug nach Deutschland organisieren. Ein
Bundeswehrsoldat hat Anspruch auf finanzielle Übernahme von Reise- und
Umzugskosten. Aber Afghanen, die zehn Jahre lang loyal für die
Bundeswehr gearbeitet haben, müssen alles selbst finanzieren – und haben
oft gar nicht das Geld dafür. In meinen Augen hat der Umgang mit den
Ortskräften ganz klar rassistische Züge.
Die deutschen Soldaten sind inzwischen zurück. Hinterlassen
die Truppen ein größeres Chaos, als sie es vor 20 Jahren vorgefunden
haben?
Nein, ich glaube, wir hinterlassen kein größeres, sondern nur ein anderes Chaos.
Welches Chaos?
Es hat Ausbeutung stattgefunden in Afghanistan. Wir hatten mit Horst
Köhler mal einen Bundespräsidenten, der ungewollt über seine Ehrlichkeit
gestolpert ist, weil er durchblicken ließ, dass es eben auch
ökonomische Interessen gibt an diesem Land, zum Beispiel an Rohstoffen.
Ich hätte kein Problem damit, wenn wir dort Rohstoffe abbauten – solange
wir faire Preise dafür zahlen. Aber das ist nicht der Fall. Stattdessen
gab es nur Entwicklungsprojekte, von denen deutsche Firmen
profitierten, weil es für sie Millionen-Investitionen waren.
Franziska Giffey hat
gerade gefordert, schwer straffällig gewordene Asylbewerber nach
Afghanistan abzuschieben. Wo könnten die denn überhaupt hin?
Die Frage nach dem Wohin kann die Bundesregierung seit Jahren nicht
beantworten. Sie behauptet immer, es gäbe sichere Gebiete.
Aber Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Nur weil ein Gebiet auf
deutschen Papieren sicher ist für eine Person, heißt das noch lange
nicht, dass dort die soziale Stellung passt, dass sie dort überhaupt
eine Möglichkeit hat zu überleben, zu arbeiten und Rückhalt zu finden.
Wie wirksam finden Sie den Vorschlag in Bezug auf Sicherheitsaspekte?
Ich finde das kurzsichtig. Von solchen Abgeschobenen werden wir in
Einzelfällen doch wieder hören. Dann hoffentlich nicht als Attentäter.
Denn was wird der Gefährder oder Straftäter tun? Er wird den
nächstmöglichen Weg zurück nach Europa einschlagen, das hat er
vielleicht schon einmal geschafft und nun kommt er möglicherweise noch
radikalisierter zurück. Meiner Meinung nach muss man mit afghanischen
Straftätern umgehen wie mit deutschen. Sie müssen bestraft und
resozialisiert werden. Dafür bräuchte es aber ein spezielles Programm,
das sprachliche und psychologische Aspekte berücksichtigt – Stichwort
posttraumatische Belastungsstörung.
Eine Aufgabe der internationalen Truppen war es, afghanische Truppen auszubilden. Was ist davon übriggeblieben?
Auch das ist nicht nachhaltig. Die Amerikaner waren ja auch dort und
haben die afghanische Luftwaffe ausgebildet. Sie überließen ihr
Black-Hawk-Hubschrauber, die die Afghanen aber nicht warten können. Das
müssten amerikanische Spezialfirmen machen, die nach dem Rückzug dort
nicht mehr zum Einsatz kommen. Die Afghanen hätten lieber irgendwelche
russischen Fabrikate gehabt, die man notfalls auch leichter flugfähig
halten kann. Wenn diese Luftwaffe sich dementsprechend bald abgenutzt
hat, was wollen die Afghanen dann gegen die vorrückenden Taliban
ausrichten? Afghanistan wird nun in Kämpfen versinken, was letztendlich
auch im Sinne der lokalen Machthaber ist.
Oskar Lafontaine sagte neulich im Cicero-Interview,
er begrüße den Rückzug der Truppen, weil er Auslandseinsätze ablehnt.
Gefragt, wie man mit dem Vormarsch der Taliban umgehen solle, meinte er:
mit Diplomatie. Wie soll das funktionieren?
Ich kann mir das auch nicht vorstellen. Ich bin auch gegen die
Auslandseinsätze, weil, wie gesagt, alles nicht nachhaltig ist und weil
es kein sinnvolles Engagement ist. Das Problem ist aber: Wir haben diese
Einsätze angefangen und sie haben Auswirkungen. Ich sehe nicht, dass
die Taliban an irgendeinen westlichen Verhandlungstisch passen würden.
Ich sehe aber auch nicht, dass wir ihre Forderungen jemals gehört hätten
oder wüssten, was die eigentlich wollen. Das hat man in 20 Jahren
Einsatz nicht kapiert, genauso wenig, wer sie finanziert.
Was hat es zu bedeuten, dass der Flughafen in Kabul nun an die Türkei, Pakistan und Ungarn übergeben wird?
Naja, das sind erwiesene Kooperationspartner, teils ja auch, wie die
Türkei, Nato-Partner. Der Einsatz ist also nicht vorbei. Aber man ist
nicht mehr gewillt, westliches Blut zu vergießen. Deswegen lässt man es
eben die Osteuropäer machen. Sie sollen nun dafür sorgen, dass der
Flughafen gehalten wird. Keine Ahnung, ob man plant, irgendwann mal
wieder einzufliegen. Es zeigt vor allem, dass die Nato mit diesem
Einsatz noch nicht so richtig fertig ist, aber gleichzeitig keine Lust
mehr hat, Geld auszugeben. Eine absolut verfahrene Situation, die eben
auch zeigt, dass man es mit diesem Land nie ehrlich gemeint hat.
Die Fragen stellte Ulrich Thiele.