Freitag, 9. Juli 2021

Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan - Der Umgang mit den Ortskräften...

 Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan

  „Der Umgang mit den Ortskräften hat rassistische Züge“

Die deutschen Truppen ziehen aus Afghanistan ab, während die Taliban auf dem Vormarsch sind. Ortskräfte, die mit der Bundeswehr kooperiert haben, fühlen sich im Stich gelassen. Im Interview kritisiert der ehemalige Offizier Daniel Lücking das Verhalten der Bundeswehr.

Daniel Lücking, Jahrgang 1979, hat Online-Journalismus in Darmstadt und Kulturjournalismus in Berlin studiert. Er arbeitet als Redakteur für nd.Der Tag. In seiner Zeit als Offizier bei der Bundeswehr absolvierte er Auslandseinsätze in Kosovo und Afghanistan.

Herr Lücking, Sie waren zwischen 2005 und 2008 insgesamt elf Monate als Offizier in Afghanistan stationiert. Was genau haben Sie dort gemacht?
Ich habe ein Radio-Projekt geleitet, das die Bundeswehr gestartet hatte. Während meines ersten Einsatzes war ich in Kundus, bei meinem zweiten und dritten in Masar-i-Sharif.

Was waren Ihre Aufgaben?
Es gab dort eine Art Medienunternehmen, das aus Radio, Print, Video und auch aus direkter Kommunikation bestand. Damit sollte die Bevölkerung über den internationalen Truppen-Einsatz informiert werden – was gerade passiert, welche lokalen Strukturen gestärkt werden sollen. Ich hatte in meiner Redaktion sieben afghanische Kollegen und eine Kollegin und parallel dazu noch Korrespondenten in den umliegenden Provinzen. Wir sollten gut Wetter für den Einsatz machen, im Wesentlichen war das Propaganda. Denn wir durften keinen freien Journalismus machen. Es gab Tabuthemen.

Welche Themen waren das?
Meine Kollegen haben immer wieder betont, dass die Korruption das größte Problem im Land war. Es gab zum Beispiel Passbehörden, in denen Mitarbeiter massiv Schmiergelder kassiert haben, wenn sie Leuten, die zum Arbeiten in den Iran oder Irak wollten, Papiere ausgestellt haben. Darüber sollten wir nicht berichten.

Das war eine Auflage der Bundeswehr?
Ja, eine politische Auflage seitens der Bundeswehr-Programmplanung, die aus Kabul kam. Das galt nicht nur für deutsche Soldaten, wir haben mit Schweden und Engländern kooperiert. Alle bekamen die klare Ansage: „Politiker sind nicht zu kritisieren, wir halten uns da raus.“ Jetzt, mit dem Abstand von über zehn Jahren, weiß ich, dass wir damit auch ein Teil dieser Korruption gewesen sind.

Inwiefern?
Wir haben potente Machthaber um uns geschart und mit ihnen kooperiert. Bestes Beispiel ist Atta Mohammad Noor, der Gouverneur der Provinz Balch, zu der die Stadt Masar-i-Sharif gehört. Er ist ein autoritärer Politiker, der seine Umgebung knechtet, aber trotzdem von internationalen Truppen profitiert hat. Er hat einmal „ganz großzügig“ der deutschen Botschaft ein Grundstück in Masar-i-Sharif geschenkt, auf dem dann ein Botschaftsgebäude errichtet wurde. Eine Folge: Die Preise für alle Grundstücke rund um die Botschaft stiegen – und die gehörten alle ihm. Über seine Menschenrechtsverletzungen haben wir auch großzügig hinweggesehen.

Haben Sie ein Beispiel?
Am 27. September 2008 gab es einen Angriff auf unser Camp in Masar-i-Sharif. Es flogen Raketen und es gab Feuergefechte unweit des Lagers. Es wurden auch Kampfflugzeuge eingesetzt, die aufklären sollten, wer die Angreifer waren. Durch Zufall habe ich wenige Tage später aus sicherer Quelle erfahren, dass ebendiese Angreifer von der ISAF (Die International Security Assistance Force war eine Sicherheits- und Wiederaufbaumission der Nato, Anm. d. Red.) festgenommen, an die afghanischen Behörden übergeben und dann auf Geheiß des Gouverneurs von einem Killerkommando einen Kopf kürzer gemacht wurden.

Wie haben Sie damals reagiert?
Das hat mich fassungslos zurückgelassen, weil ich als Offizier solchen Dingen keinen Vorschub leisten wollte. Ich tröstete mich damals damit darüber hinweg, dass wir eine Parlamentsarmee waren und das bestimmt zu einem politischen Thema werden würde. Aber Jahre später erfuhr ich, dass das Parlament überhaupt nicht informiert wurde. Nur ein paar Leute mit sehr hoher Sicherheitseinstufung wussten Bescheid.

Wie haben Sie das erfahren?
Vier Jahre später, als ich die Uniform schon abgelegt hatte, bekam ich Einblick in die Protokolle, die an den Bundestag gingen. Darin gab es keine Hinweise auf diesen Vorfall. Der Angriff aufs Camp wurde zwar geschildert, aber dessen Intensität war überhaupt nicht nachvollziehbar. Ich konnte dann mit Hilfe der Linksfraktion eine Kleine Anfrage stellen. Die Antwort hat nicht viel hergegeben, aber immerhin wurde eingeräumt, dass die Angreifer festgenommen wurden. Allerdings hieß es, man wisse nicht genau, was letztlich mit ihnen passiert war. Ich konnte aber herausfinden, dass die Bundeswehr zu diesem Tag mindestens drei verschiedene Schilderungen des Ereignisses geliefert hatte. Das roch alles danach, dass etwas klein gekocht werden sollte. Vollständig aufarbeiten kann man das wegen der Geheimhaltung aber nicht. Wir waren 20 Jahre in Afghanistan, da frage ich mich: Wie viele solcher Tage gab es noch noch?

Die Wehrbeauftrage Eva Högl erinnerte an die 59 deutschen Soldaten, die in Afghanistan getötet wurden, nicht aber an die getöteten Afghanen. Ein bekanntes Beispiel ist der Befehl eines deutschen Kommandeurs im September 2009, einen Luftschlag gegen Tanklaster durchzuführen, die von Zivilisten umgeben waren. Hunderte Menschen sind in der Nacht gestorben, darunter Kinder. Wie viele Menschen wurden in den 20 Jahren getötet?
Dazu gibt es keine genauen Zahlen. Es gab aber auf jeden Fall noch viel mehr solcher Ereignisse. Soldaten, die unter Druck standen, auf herannahende Fahrzeuge schossen und damit Familien töteten. Und ich möchte nicht wissen, was das Kommando Spezialkräfte (KSK) alles angestellt hat. Die waren zusammen mit den US-Streitkräften unterwegs und da dürfte es nicht zimperlich zugegangen sein. Diese Sachen werden auf ewig unter Verschluss bleiben. Die afghanische Bevölkerung und die Taliban wissen aber, wie sich deutsche und amerikanische Spezialkräfte verhalten haben.

Was hat das KSK gemacht?
Als ich im Einsatz war, waren die sogenannten „Night Raids“ eine gängige Methode – also das, was die Amerikaner auch im Irak gemacht haben. Sie kamen nachts in die Städte, traten die Türen von Häusern ein und verschleppten Männer ins Militärgefängnis, die sie als Taliban verdächtigten. Dann wurden Hunde in die Häuser geschickt und die Häuser verwüstet. Ich bekam in den Camps Hinweise darauf, dass das KSK gemeinsam mit den US-Spezialkräften solche Operationen durchgeführt hat. Aber auch das lässt sich nicht belegen, weil die ganzen Unterlagen unter Verschluss sind. Wenn ich mich mit Mitgliedern des Verteidigungsausschusses und mit Abgeordneten über deren Informationslage unterhalte, kann ich nur sagen: Die ist desolat. Die sind mitunter mal nach Afghanistan gereist, haben da aber nur gefilterte Informationen bekommen. Im Wesentlichen haben unsere Abgeordneten von den Einsätzen nur ein beschränktes Bild, nämlich das, was die Bundesregierung zulässt. Von parlamentarischer Kontrolle kann da keine Rede sein.

Nochmal zurück zu Ihrem Radiosender: Wäre es in irgendeiner Weise denkbar gewesen, kritischen Journalismus zu machen?
Nein, denn man kann nicht afghanische Behörden wegen Korruption in die Mangel nehmen, wenn man selbst Motor der Korruption ist. Jedes Hilfsprojekt, jede Brücke, jede Schule, die gebaut wurde, war eigentlich doppelt so teuer, weil die Hälfte der Kosten in lokale Machtstrukturen investiert werden musste, damit die Machthaber kooperierten und die Brücke und die Schule nicht angegriffen wurden. Wir haben mit sehr viel Geld um uns geschmissen, aber letztlich sehr unkoordiniert. Was Afghanistan nach damals 30 Jahren Krieg gebraucht hätte, ist ein Marshallplan zum langfristigen systematischen Wiederaufbau. Letztendlich war das internationale Engagement nicht ernst gemeint.

Haben Sie noch Kontakt zu den Redakteuren von damals?
Zu einigen über Facebook. Manche von ihnen haben es mit Ende des ISAF-Einsatzes 2014 nach Deutschland geschafft. Das sind jetzt aber auch keine blühenden Existenzen. Einer ist inzwischen bei der Deutschen Welle angekommen, andere sind mit ihren Familien in die Hartz-IV-Versorgung gerutscht. Schon 2014 hat man keine Rücksicht auf die Ortskräfte genommen. Manche Mitarbeiter kamen morgens zur Arbeit, wurden von jetzt auf gleich entlassen, bekamen ein bisschen Cash und mussten mittags das Camp verlassen. Darunter eine Redakteurin, eine Kollegin von mir. Mit Anfang 30 war sie nach fast zehn Jahren Arbeit für die ISAF mittlerweile westlich geprägt. Sie ging dann zurück an die Uni in Masar-i-Scharif. Zwei Monate später klopfte es an ihrer Tür und jemand schlitzte ihr die Kehle durch – weil sie zu westlich war, als Frau studiert und für den Westen gearbeitet hatte.

In der Süddeutschen Zeitung erschien jüngst der Gastbeitrag eines afghanischen Dolmetschers, der jahrelang für die Bundeswehr gearbeitet hat, nun angesichts der vorrückenden Taliban um sein Leben fürchtet und sich von den Deutschen im Stich gelassen fühlt. Das Verteidigungsministerium verkündete, man sei sich „der Verantwortung gegenüber den Menschen bewusst, die uns geholfen haben“, deswegen erhalten 446 Ortskräfte und ihre Familien Reisedokumente. Warum fühlen sich Ortskräfte trotzdem im Stich gelassen?
Weil das alles völlig utopisch geregelt ist. Man hätte den Menschen zum Ende des Einsatzes die Passpapiere geben und sie zusammen mit den Truppen nach Deutschland holen müssen. Stattdessen sollen sie bis zu 400 Kilometer zur deutschen Botschaft nach Kabul fahren, die Papiere ausfüllen, Flug und Umzug nach Deutschland organisieren. Ein Bundeswehrsoldat hat Anspruch auf finanzielle Übernahme von Reise- und Umzugskosten. Aber Afghanen, die zehn Jahre lang loyal für die Bundeswehr gearbeitet haben, müssen alles selbst finanzieren – und haben oft gar nicht das Geld dafür. In meinen Augen hat der Umgang mit den Ortskräften ganz klar rassistische Züge.

Die deutschen Soldaten sind inzwischen zurück. Hinterlassen die Truppen ein größeres Chaos, als sie es vor 20 Jahren vorgefunden haben?
Nein, ich glaube, wir hinterlassen kein größeres, sondern nur ein anderes Chaos.

Welches Chaos?
Es hat Ausbeutung stattgefunden in Afghanistan. Wir hatten mit Horst Köhler mal einen Bundespräsidenten, der ungewollt über seine Ehrlichkeit gestolpert ist, weil er durchblicken ließ, dass es eben auch ökonomische Interessen gibt an diesem Land, zum Beispiel an Rohstoffen. Ich hätte kein Problem damit, wenn wir dort Rohstoffe abbauten – solange wir faire Preise dafür zahlen. Aber das ist nicht der Fall. Stattdessen gab es nur Entwicklungsprojekte, von denen deutsche Firmen profitierten, weil es für sie Millionen-Investitionen waren.

Franziska Giffey hat gerade gefordert, schwer straffällig gewordene Asylbewerber nach Afghanistan abzuschieben. Wo könnten die denn überhaupt hin?
Die Frage nach dem Wohin kann die Bundesregierung seit Jahren nicht beantworten. Sie behauptet immer, es gäbe sichere Gebiete. Aber Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Nur weil ein Gebiet auf deutschen Papieren sicher ist für eine Person, heißt das noch lange nicht, dass dort die soziale Stellung passt, dass sie dort überhaupt eine Möglichkeit hat zu überleben, zu arbeiten und Rückhalt zu finden.

Wie wirksam finden Sie den Vorschlag in Bezug auf Sicherheitsaspekte?
Ich finde das kurzsichtig. Von solchen Abgeschobenen werden wir in Einzelfällen doch wieder hören. Dann hoffentlich nicht als Attentäter. Denn was wird der Gefährder oder Straftäter tun? Er wird den nächstmöglichen Weg zurück nach Europa einschlagen, das hat er vielleicht schon einmal geschafft und nun kommt er möglicherweise noch radikalisierter zurück. Meiner Meinung nach muss man mit afghanischen Straftätern umgehen wie mit deutschen. Sie müssen bestraft und resozialisiert werden. Dafür bräuchte es aber ein spezielles Programm, das sprachliche und psychologische Aspekte berücksichtigt – Stichwort posttraumatische Belastungsstörung.

Eine Aufgabe der internationalen Truppen war es, afghanische Truppen auszubilden. Was ist davon übriggeblieben?
Auch das ist nicht nachhaltig. Die Amerikaner waren ja auch dort und haben die afghanische Luftwaffe ausgebildet. Sie überließen ihr Black-Hawk-Hubschrauber, die die Afghanen aber nicht warten können. Das müssten amerikanische Spezialfirmen machen, die nach dem Rückzug dort nicht mehr zum Einsatz kommen. Die Afghanen hätten lieber irgendwelche russischen Fabrikate gehabt, die man notfalls auch leichter flugfähig halten kann. Wenn diese Luftwaffe sich dementsprechend bald abgenutzt hat, was wollen die Afghanen dann gegen die vorrückenden Taliban ausrichten? Afghanistan wird nun in Kämpfen versinken, was letztendlich auch im Sinne der lokalen Machthaber ist.

Oskar Lafontaine sagte neulich im Cicero-Interview, er begrüße den Rückzug der Truppen, weil er Auslandseinsätze ablehnt. Gefragt, wie man mit dem Vormarsch der Taliban umgehen solle, meinte er: mit Diplomatie. Wie soll das funktionieren?
Ich kann mir das auch nicht vorstellen. Ich bin auch gegen die Auslandseinsätze, weil, wie gesagt, alles nicht nachhaltig ist und weil es kein sinnvolles Engagement ist. Das Problem ist aber: Wir haben diese Einsätze angefangen und sie haben Auswirkungen. Ich sehe nicht, dass die Taliban an irgendeinen westlichen Verhandlungstisch passen würden. Ich sehe aber auch nicht, dass wir ihre Forderungen jemals gehört hätten oder wüssten, was die eigentlich wollen. Das hat man in 20 Jahren Einsatz nicht kapiert, genauso wenig, wer sie finanziert.

Was hat es zu bedeuten, dass der Flughafen in Kabul nun an die Türkei, Pakistan und Ungarn übergeben wird?
Naja, das sind erwiesene Kooperationspartner, teils ja auch, wie die Türkei, Nato-Partner. Der Einsatz ist also nicht vorbei. Aber man ist nicht mehr gewillt, westliches Blut zu vergießen. Deswegen lässt man es eben die Osteuropäer machen. Sie sollen nun dafür sorgen, dass der Flughafen gehalten wird. Keine Ahnung, ob man plant, irgendwann mal wieder einzufliegen. Es zeigt vor allem, dass die Nato mit diesem Einsatz noch nicht so richtig fertig ist, aber gleichzeitig keine Lust mehr hat, Geld auszugeben. Eine absolut verfahrene Situation, die eben auch zeigt, dass man es mit diesem Land nie ehrlich gemeint hat.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

 

 

 

 

 

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