- Biedermänner und Freigeister
Boris Johnson wird in Deutschland von den Biedermännern der
Politik mit Argwohn betrachtet. Eine Fehleinschätzung. Denn Johnson ist
ein gebildeter Freigeist, der mit der deutschen Kleinbürgerei nichts am
Hut hat.
Kleines Gedankenexperiment: Ist es vorstellbar, dass sich Michael
Müller, seines Zeichens Regierender Bürgermeister von Berlin und
wackerer Sozialdemokrat, ein Rededuell mit einer angesehenen
Historikerin liefert, Thema: Welche antike Kultur ist die überlegene,
die griechische oder die römische?
Seien wir ehrlich: Nein, das ist natürlich nicht
vorstellbar. Michael Müller ist gelernter Bürokaufmann, wie es in viele
gibt in Deutschland. Doch man tritt ihm gewiss nicht zu nahe, wenn man
davon ausgeht, dass das Zitieren von Homer-Versen im Original nicht zu
seinen Kernkompetenzen gehört. Und zu den Eigenarten griechischer und
römischer Kultur hätte Müller vermutlich auch nicht allzu viel zu sagen.
Es wäre einfach nur grotesk.
Argwohn ist die Reaktion des Biedermanns
Allerdings muss man sich dieses absurde Szenario spaßeshalber vor
Augen führen, um zu verstehen, weshalb deutsche Politiker – und mit
ihnen die deutsche Öffentlichkeit – Boris Johnson mit „Argwohn“ betrachten, wie es die Welt so schön formuliert hat.
Denn Argwohn ist die Reaktion des Biedermanns, wenn ihm etwas zutiefst
fremd ist. Dann mobilisiert er seine piefigen Ressentiments und das ihm
Fremde wird gebrandmarkt: als nicht ganz koscher, als dubios und
irgendwie unredlich. Und fremd muss Boris Johnson dem Mittelmaß, das die
deutsche Politik beherrscht, zwangsläufig sein.