- Biedermänner und Freigeister
Boris Johnson wird in Deutschland von den Biedermännern der
Politik mit Argwohn betrachtet. Eine Fehleinschätzung. Denn Johnson ist
ein gebildeter Freigeist, der mit der deutschen Kleinbürgerei nichts am
Hut hat.
Kleines Gedankenexperiment: Ist es vorstellbar, dass sich Michael
Müller, seines Zeichens Regierender Bürgermeister von Berlin und
wackerer Sozialdemokrat, ein Rededuell mit einer angesehenen
Historikerin liefert, Thema: Welche antike Kultur ist die überlegene,
die griechische oder die römische?
Seien wir ehrlich: Nein, das ist natürlich nicht
vorstellbar. Michael Müller ist gelernter Bürokaufmann, wie es in viele
gibt in Deutschland. Doch man tritt ihm gewiss nicht zu nahe, wenn man
davon ausgeht, dass das Zitieren von Homer-Versen im Original nicht zu
seinen Kernkompetenzen gehört. Und zu den Eigenarten griechischer und
römischer Kultur hätte Müller vermutlich auch nicht allzu viel zu sagen.
Es wäre einfach nur grotesk.
Argwohn ist die Reaktion des Biedermanns
Allerdings muss man sich dieses absurde Szenario spaßeshalber vor
Augen führen, um zu verstehen, weshalb deutsche Politiker – und mit
ihnen die deutsche Öffentlichkeit – Boris Johnson mit „Argwohn“ betrachten, wie es die Welt so schön formuliert hat.
Denn Argwohn ist die Reaktion des Biedermanns, wenn ihm etwas zutiefst
fremd ist. Dann mobilisiert er seine piefigen Ressentiments und das ihm
Fremde wird gebrandmarkt: als nicht ganz koscher, als dubios und
irgendwie unredlich. Und fremd muss Boris Johnson dem Mittelmaß, das die
deutsche Politik beherrscht, zwangsläufig sein.
Wie ganz anders der neue britische Premierminister tickt und aus welcher Welt er stammt, wurde etwa vor vier Jahren deutlich. Da
nämlich diskutierte der damalige Bürgermeister von London vor 2.200
begeisterten Zuhörern in der Westminster Central Hall mit der
Althistorikerin Mary Beard, welche Kultur für die abendländische Entwicklung die größere Rolle gespielt hat: Griechenland oder Rom?
Oxford gegen Cambridge
Veranstaltet wurde die Debatte von einer sehr britischen Einrichtung,
dem Diskussionsforum „Intelligence Squared“, das regelmäßig
Streitgespräche zu ganz unterschiedlichen Themen aus Kunst, Geschichte,
Politik oder Wirtschaft organisiert. In diesem Fall debattierte
selbstredend nicht nur ein Bürgermeister mit einer Professorin, sondern
hier trat Oxford (Johnson) gegen Cambridge (Beard) an. Altphilologe
gegen Althistorikerin, Buchautor und Kolumnist gegen Wissenschaftlerin.
Und dann hielt Boris Johnson in typischer Johnson-Manier, mit schief
sitzender Brille, Wuschelkopf und verbeultem Anzug, ein
leidenschaftliches Plädoyer für die griechische Kultur, die Kultur
freier Männer, für Stolz und Unabhängigkeit, aufgezeigt an dem
Ungehorsam des Achill. Spätestens in diesem Moment, wenn er mit
brillanter Rhetorik, immensem Witz und ebensolcher Schnoddrigkeit Rom
als kulturellen Parasit und Untertanenstaat entlarvt, wird sonnenklar,
dass ein solcher Mann hierzulande nur Irritationen hervorrufen kann.
Denn in Deutschland, dem Land der nivellierten
Mittelstandsgesellschaft, in dem Politiker den direkten Weg von der
sozialdemokratisierten Gesamtschule zur Massenuniversität und dann in
den Parteiapparat gehen, wo man zwar permanent das Selbstdenken
beschwört. Aber jeder verdächtig erscheint, der es wirklich tut, wo man
von Exzellenz redet, wenn man Mittelmaß meint und Individualität nur
dann akzeptiert wird, wenn sie konformistisch daher kommt. Hier stößt
ein Boris Johnson fast zwangsläufig auf Ablehnung.
Kleinbürgerei trifft auf Freigeist
Insofern sind die Reaktionen aus Deutschland auf die Wahl des neuen
Premiers mehr als entlarvend. Und das nicht nur, weil hier das Land
institutionalisierter Engstirnigkeit und Kleinbürgerei auf einen
aristokratischen Anarchisten und Freigeist trifft, dem die
Moralvorstellungen des deutschen Neuspießertums ziemlich schnuppe sind.
Johnson irritiert hierzulande auch deshalb so mächtig, weil er ein
Liberaler in allerbester britischer Tradition ist, ein Mann der
Freiheit, der sich nicht hinter irgendwelchen Bindestrich-Liberalismen
verbirgt, die mit Freiheit wenig, mit Indoktrination der Mitmenschen
aber umso mehr zu tun haben.
Besonders komisch wird es, wenn hierzulande selbsternannte Weltbürger
Boris Johnson der Provinzialität und der Borniertheit zeihen. Denn kaum
einer repräsentiert von Habitus, Herkunft, Ausbildung und Werdegang
wahres Kosmopolitentum besser als der ehemalige Londoner Bürgermeister.
Doch es ist kennzeichnend für den deutschen Provinzialismus,
Weltbürgertum mit internationalistischer Ideologie zu verwechseln. Dass
das Großsprecherische und Auftrumpfende dabei an imperiales römische
Sendungsbewusstsein erinnert, Englands trotziges Autonomiestreben
hingegen an griechischen Freiheitswillen, erklärt viel über das
Unverständnis, auf das der Philhellene Boris Johnson bei den deutschen
Politbiedermeiern stößt.
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