Donnerstag, 4. Juni 2020

Was die Flüchtlingskrise, Klima und Corona verbindet

Politik im Panikmodus
VON CHRISTOPH SCHWENNICKE am 4. Mai 2020
Vieles von dem, was in den letzten Jahren scheinbar plötzlich über uns kam, war eigentlich absehbar. Die Politik hat es aber ignoriert und reagierte jeweils mit Extrempolitik. Zeit, sich aus diesem Strudel des panischen Populismus zu befreien.
Flüchtlingskrise, das Klima, Corona - alle drei politischen Großereignisse der vergangenen Jahre, so unterschiedlich sie thematisch sein mögen, eint eines: Jedesmal hat die Politik extrem reagiert, ist in einen anderen Arbeitsmodus übergegangen. Von einem besonnenen, abwägenden und strategischen Ansatz zu einem des Aktionismus. Man kann auch sagen: der Panik. 
Alles andere tritt mit einem Mal in den Hintergrund. Nur eine Lesart zählt, nur ein Weg geht scheinbar. Und diesen Weg weist oft eine einzelne Figur. Heiße sie Greta Thunberg oder Christian Drosten. Die politisch Handelnden werden zu „Getriebenen“, wie das der Kollege Robin Alexander in seinem gleichnamigen und zuletzt schändlich schlecht verfilmten Buch über die Flüchtlingskrise exemplarisch protokolliert hat. 

Gefühl der Ohnmacht

Warum ist das so? Warum dieses neue Muster? Eine Gemeinsamkeit der drei Ereignisse: Alle drei kamen über die Politik und die politisch Handelnden wie eine höhere Macht, auch wenn man alle drei natürlich länger hätte kommen sehen können. Mit einem Mal waren sie real da: Die vielen hunderttausend Flüchtlinge, die Wetterextreme, das Virus. Einem unmittelbaren Gefühl der Ohnmacht, wurde jeweils mit Extrempolitik begegnet.
„Es liegt nicht in unserer Macht, wie viele noch zu uns kommen“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 in der Hochphase der Flüchtlingskrise und ließ die Grenzen offen. Beim Virus schottete sich Deutschland dann doch ab - bis in kleinste Gebietskörperschaften hinein: Mecklenburg-Vorpommern errichtete an seinen Grenzen Straßensperren, um Hamburger und Berliner abzuwimmeln. Wildgewordene Landräte machen Jagd auf Zweitwohnungsbesitzer.

Wer die Deutungshoheit gewinnt, der bestimmt

Allen drei Ereignissen ist gemeinsam und zu eigen, dass die Politik vorher zu lange die Hinweise darauf, dass da etwas Großes kommt, ignoriert hat. Der Flüchtlingsstrom hatte sich angekündigt, der Klimawandel auch, und für eine Pandemie hätte es eigentlich einen Plan und auch genügend Masken für alle geben müssen. Jedesmal wurde die Politik auch wegen vorheriger Ignoranz in den Aktionismus getrieben, den sie am Ende mit zu verantworten hat. 
Der äußere Druck, die permanent sich verstärkende Macht der Bilder, die Sekundenschnelle, in der sich, dem Hochfrequenzhandel an der Börse ähnlich, die Botschaften über das weltweite Netz verbreiten, machen die politischen Spielräume zusätzlich eng. Es gibt eine plausible ökonomische Theorie, derzufolge im digitalen Zeitalter das „The winner takes it all“-Prinzip des Kapitalismus ins Extrem getrieben wird. Das Gleiche vollzieht sich politisch. Wer die Deutungshoheit gewinnt, der bestimmt. Und wenn es ein 15jähriges Mädchen aus Schweden ist. 

Viel verlangt

Politik wird darüber geradezu in einen Populismus gedrängt. Exemplarisch kann man das an der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen festmachen. Gerade noch hat sie einen 500-Milliarden-Euro-„Green Deal“ zur Klimarettung der Europäischen Union ausgerufen. Jetzt soll es das Ganze im doppelten Maßstab als Marshall-Plan zur Rettung der europäischen Wirtschaft in der Corona-Krise geben.
Große Worte, große Zahlen, große Ohnmacht: Dieser Populismus spiegelt sich auch in der unmittelbaren Reaktion der Politik auf die Corona-Seuche wider: Der dosierte Shutdown in Deutschland war zu einem Gutteil ein politisches Nachvollziehen dessen, was ohnehin schon Raum gegriffen hatte und Raum gegriffen hätte. Vehement das fordern, was ohnehin kommt, ist ein altes, probates, aber nicht eben ehrenwertes politisches Verhaltensmuster. Und BDI-Präsident Dieter Kempf hat natürlich recht, wenn er sagt, dass es leichter ist, einen Notaus-Knopf zu drücken, als die Sicherung wieder reinzuschrauben.
Es wäre zu wünschen, dass die Politik sich aus diesem Strudel des panischen Populismus befreien würde. Das würde vor allem heißen: Mehr Prävention, mehr Weitsicht und im akuten Fall mehr Besonnenheit. Das ist sehr viel verlangt, vermutlich zu viel in einer Zeit der extremen Ereignisse und noch extremeren Emotionen. 

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