Warum wir uns in die Köpfe der Flüchtlinge
hineindenken müssen. Ein Gespräch mit dem amerikanischen
Zuwanderungsforscher Demetrios Papademetriou.
DIE ZEIT: Gibt es "gute" Grenzen? Grenzen, die Staaten schützen, ohne brutal zu sein?
Demetrios Papademetriou:
Das ist eine höllisch schwierige Frage.
ZEIT: Gut, einfacher: Lassen sich Grenzen sichern?
ZEIT: Gut, einfacher: Lassen sich Grenzen sichern?
Papademetriou:
Natürlich. Praktisch alle Staaten der Erde tun das, mit Erfolg. Es gibt keine Region auf
der Welt, die solche Schwierigkeiten hat, ihre Grenzen zu schützen wie Europa. Wenn ich mit
Beamten oder Politikern in Brüssel spreche, bin ich jedes Mal schockiert, dass sie überzeugt
sind, sie könnten nichts tun, um die Wanderungsbewegungen von Menschen zu beeinflussen.
Dabei war kein anderes Thema jemals von solch existenzieller Bedeutung für Europa wie die
Flüchtlingskrise.
ZEIT:
Wie lassen sich Grenzen sichern? Die Kanzlerin sagt, Zäune helfen nicht.
Papademetriou:
Das stimmt nicht. Es gibt jede Menge Optionen, um Grenzen zu sichern, und sie alle sind mit
internationalem Recht vereinbar.
Schauen Sie in die USA, wir haben lange Grenzen und viele Probleme mit Migration. Die USA haben deshalb Milliarden Dollar in den Grenzschutz investiert, in Zäune und neues Personal, die Zahl der Grenzschützer wurde annähernd versechsfacht. Seither ist die Grenze unter Kontrolle.
Schauen Sie in die USA, wir haben lange Grenzen und viele Probleme mit Migration. Die USA haben deshalb Milliarden Dollar in den Grenzschutz investiert, in Zäune und neues Personal, die Zahl der Grenzschützer wurde annähernd versechsfacht. Seither ist die Grenze unter Kontrolle.
ZEIT:
Also doch Zäune bauen, rings um Europa und mitten durch Europa?
Papademetriou:
Klar, es ist sehr schwierig, innerhalb Europas wieder Grenzen zu sichern, weil das alles
infrage stellt, was die EU in den letzten Jahrzehnten erreicht hat. Die Außengrenzen sind
etwas anderes. Aber auch dort droht ein Dominoeffekt: Wenn die EU ihre Außengrenzen
schließt, wird dem nächsten Nachbarland, Serbien, nichts anderes übrig bleiben, als seine
Grenzen zu schließen. Dann wird Montenegro folgen und so weiter, bis Griechenland übrig
bleibt. Und wenn in Griechenland dreihunderttausend Flüchtlinge festsitzen, dann wird es
dort eine Revolution geben, und ich meine das ernst: eine Revolution. Die Grenzen zu sichern
genügt also nicht. Wichtiger ist etwas anderes. Wenn wir die Menschen davon abhalten wollen,
weiter in so großer Zahl nach Europa zu kommen, dann müssen wir uns in ihre Köpfe versetzen.
Wir müssen ihre Motive verstehen, warum sie sich aufmachen, warum sie sich in die Hände von
Schleppern begeben, warum sie ihr Leben aufs Spiel setzen. Wenn wir das nicht schaffen, dann
wird die Wanderung weitergehen, wir werden schreckliche Fernsehbilder sehen, irgendwann
werden Menschen auf der Route sterben. Und was wird Europa dann tun?
ZEIT:
Warum setzen die Menschen ihr Leben aufs Spiel, um nach Europa zu kommen?
Papademetriou:
Weil sie nahezu sicher sein können, dass sie bleiben dürfen, wenn sie es hierhergeschafft
haben. Egal, woher sie kommen. Die gegenwärtige Politik hat Europa zu einem Magneten
gemacht, der mehr und mehr Menschen anzieht, die hier eine Chance auf ein besseres Leben
sehen.
ZEIT:
Weil Frau Merkel die Grenzen geöffnet hat?
Papademetriou:
Nein, das ist nur ein Teil. Aber ein wichtiger. Was Frau Merkel getan hat, war ein
historischer Akt. Man wird sich daran noch in zwanzig Jahren erinnern. In einer halben
Stunde, oder wie lange es gedauert haben mag, um die Entscheidung zu treffen, wurde
Deutschland zum gelobten Land, das immer mehr Menschen anzieht. Aus meiner Sicht haben sich
Frau Merkel und Peter Altmaier, ihr Kanzleramtsminister, bei dieser Entscheidung kolossal
verrechnet, was immer ihre Motive gewesen sein mögen.
ZEIT:
Frau Merkel sah eine humanitäre Notlage.
Papademetriou:
Ich verstehe, dass sie unter enormem Druck stand. Aber wer solch eine Entscheidung trifft,
muss wissen, was eine solche Erklärung auslöst, im eigenen Land und bei den Menschen im
Nahen Osten.
ZEIT:
Wollen Sie behaupten, Frau Merkel habe die Flüchtlingskrise allein mit ihrer Bemerkung
ausgelöst?
Papademetriou:
Natürlich nicht. Aber ihre Entscheidung hatte Folgen, über die zu wenig nachgedacht wird.
Zum einen passierte etwas, was ich als Vereinfachungen bezeichne: Jeder Mensch im Mittleren
Osten, der gehen wollte, wurde plötzlich zu einem Syrer. Jeder Mensch in Bangladesch oder
Pakistan, der gehen wollte, wurde zu einem Afghanen. Weil diese beiden Gruppen ohne allzu
genaue Prüfung in Deutschland aufgenommen werden. Und zweitens: Migration produziert mehr
Migration. Einwanderer ziehen andere Einwanderer nach. Die Informationen verbreiten sich in
Echtzeit, über die Sozialen Netzwerke, über die Smartphones, und wenn sie sich verbreitet
haben, ist es egal, was die Politiker später erklären. Denn die Flüchtlinge haben bereits
die einzige Information, die ihnen wichtig ist: Wenn ihr hierher, nach Deutschland, kommt,
werdet ihr aufgenommen. Das ist alles, was zählt.
Europa muss seine eigenen Gesetze durchsetzen
ZEIT:
Was also soll Europa tun?
Papademetriou:
Vielleicht ist die letzte große Krise an der US-Grenze zu Mexiko ganz instruktiv. Im Jahr
2012 meldeten sich dort plötzlich immer mehr Minderjährige, die allein unterwegs waren oder
nur mit ihrer Mutter. Anfangs waren es etwa 20.000 im Jahr, dann 50.000, 2014 waren es
bereits 140.000. Diese Jugendlichen versuchten nicht, illegal über den Zaun zu klettern, sie
gingen direkt zu den Grenzbeamten und sagten: "Hi, ich bin ein Kind ohne Begleitung, ich
möchte Asyl." Für solche unbegleiteten Jugendlichen gelten besondere US-Gesetze, die den
Staat verpflichten, sich um die Minderjährigen zu kümmern. Die USA reagierten darauf mit
einer Reihe von Maßnahmen, die allesamt lehrreich sind, wenngleich nicht alle auf Europa
übertragbar sein mögen. Erstens: Alle Kinder und Jugendlichen wurden in Unterkünften
untergebracht und dort festgesetzt. Zweitens: Die Bearbeitung ihrer Fälle wurde vorgezogen
und beschleunigt, die meisten Anträge wurden abgelehnt, zehn- bis fünfzehntausend Kinder und
Jugendliche wurden zurück nach Mexiko geschickt. Drittens: Die US-Regierung hat die
Präsidenten von Mexiko, Guatemala, El Salvador und Honduras nach Washington eingeladen. Aus
diesen vier Staaten kamen über neunzig Prozent der Kinder. Mit den Staatschefs wurde
vereinbart, dass sie die Jugendlichen zurücknehmen, dass mehr in Bildung investiert wird und
in Reintegrationsprogramme. Und mit der mexikanischen Regierung wurde vereinbart, dass
Mexiko seine Südgrenzen besser schützt, um zu verhindern, dass Menschen aus Mittelamerika
durch Mexiko in die USA wandern. Im Grunde haben wir also eine Art Pufferzone geschaffen.
Und wir haben für ein bestimmtes Kontingent von Jugendlichen die Möglichkeit geschaffen, in
ihren Herkunftsländern bei der US-Botschaft einen Asylantrag zu stellen. Resultat: Die
Zahlen sind deutlich zurückgegangen. Warum? Weil die Regierung entschlossen gehandelt hat
und weil sie zu Recht annahm, dass weniger Minderjährige sich auf den Weg machen würden,
wenn sie erkennen, dass sie keine Chance haben, in den USA zu bleiben.
ZEIT:
Die EU kann aber keine vergleichbaren Abkommen mit Syrien, Eritrea oder Afghanistan
schließen, das sind
failing states.
Papademetriou:
Das ist nur zum Teil richtig. Erstens: Mexiko spielt für die USA eher die Rolle, die die
Türkei für die EU hat, sie ist das wichtigste Transitland, und kein
failing state.
Und da liegt ein enormes Versagen der EU: Sie hätte viel früher auf die Flüchtlingsströme
reagieren müssen, die sich ja schon lange abzeichneten. Wer den Zustrom von Zuwanderern und
Flüchtlingen bremsen will, muss an zwei Punkten investieren: dort, wo die Menschen
herkommen, und dort, wo sie auf ihrem Weg durchkommen. Und zweitens war es ein Fehler der
Europäer, praktisch allen Menschen aus Afghanistan und Eritrea den Status von
Bürgerkriegsflüchtlingen zu geben. Die internationalen Konventionen verpflichten nicht dazu.
Und warum soll ein Afghane Zuflucht 5000 Kilometer entfernt in Europa finden, wenn er
Sicherheit auch in einem anderen Teil seines Landes finden könnte? Ich glaube, wir brauchen
keine schärferen Regeln, um unsere Probleme zu lösen, aber wir müssen schärfer
nachdenken.
ZEIT:
Was würden Sie anders machen, ohne unmenschlich zu werden?
Papademetriou:
Europa muss nicht unmenschlich werden. Es muss nur endlich seine eigenen Gesetze
durchsetzen. Wenn es das nicht tut, wird es völlig überwältigt werden.
ZEIT:
Was heißt das? Massenabschiebungen?
Papademetriou:
Die Europäer müssen viel klarer unterscheiden zwischen den Menschen, die wirklich Schutz
brauchen, und denen, die hier eine bessere wirtschaftliche Zukunft suchen. Und Europa muss
diejenigen, die hier nicht bleiben dürfen, abschieben, schnell und entschlossen. Die
Vorstellung, dass Menschen freiwillig zurückkehren, ist lächerlich. Nein, wir müssen
abschieben, und lassen Sie mich das ein wenig machiavellistisch formulieren: Die Abschiebung
muss öffentlich sichtbar sein, sie muss eine Botschaft enthalten an andere Menschen, die
erwägen, sich auch auf den Weg nach Europa zu machen. Die Botschaft muss lauten: Kommt
nicht! Wenn diese Botschaft nicht ganz klar wird, dann werden all diese Menschen auch weiter
ihr letztes Geld ausgeben, sich schlagen und misshandeln lassen, alle Regeln missachten,
ihre Gesundheit, womöglich ihr Leben riskieren, um nach Europa zu kommen.
ZEIT:
Aber die Menschen kommen doch nicht nur, weil Europa sie anlockt, sondern auch, weil ihr
Leben in ihrer Heimat hoffnungslos ist.
Papademetriou:
Deshalb ist das eine, die richtige Botschaft zu verbreiten. Und das andere ist die
Kooperation mit den Herkunftsländern oder den Nachbarländern der Herkunftsländer.
ZEIT:
Das heißt?
Papademetriou:
Wir müssen in Syrien Flugverbotszonen einrichten, die syrische Luftwaffe zerstören, große
Schutzzonen im Norden einrichten, die von UN-Friedenstruppen gesichert werden. Wenn wir das
nicht endlich tun, dann werden nach dem Winter – und wohl auch schon im Winter – noch viel
mehr Menschen aus Syrien fliehen.
Die Menschen müssen eine Chance bekommen, ihr Leben wieder in den Gang zu bringen
ZEIT:
Dass der Westen sich dazu durchringt, ist extrem unwahrscheinlich.
Papademetriou:
Also brauchen wir einen Plan B. Und der wird sehr teuer, mindestens zehn Milliarden pro
Jahr. Nach meiner Einschätzung haben viele der Syrer, die in den Nachbarländern Zuflucht
gefunden haben, in den letzten Monaten die Hoffnung verloren, dass sich in ihrer Heimat bald
etwas zum Besseren ändert. In den vergangenen Jahren waren diese Menschen im Grunde nur
"eingelagert", nun müssen sie eine Chance bekommen, ihr Leben wieder in Gang zu bringen. Und
dazu können wir eine Menge beitragen, weit mehr als Decken, Nahrung, Zelte. Die Kinder
müssen in die Schule gehen. Menschen, die in einer Ausbildung waren, müssen sie abschließen.
Und das Wichtigste ist: Die Menschen müssen wieder in die Lage gebracht werden, selbst für
ihre Familien zu sorgen. Das heißt, sie müssen legal arbeiten dürfen. Bislang dürfen sie das
nicht. Das bedeutet, dass sie natürlich doch arbeiten, aber eben schwarz, und dabei werden
sie brutal ausgebeutet.
ZEIT:
Ist das nicht zynisch? Wir verlangen von der Türkei und Jordanien etwas, was wir selbst
nicht zu leisten bereit sind – Aufnahme der Flüchtlinge, Zugang zum Arbeitsmarkt?
Papademetriou:
Deutschland nimmt doch eine Million Migranten in diesem Jahr auf und wahrscheinlich noch
einmal so viele im nächsten Jahr ...
ZEIT:
Das politische Ziel aber ist es, die Zuwanderung zu bremsen oder ganz zu stoppen.
Papademetriou:
Und warum? Weil sich die Lage in Syrien irgendwann bessern wird. Dann muss das Land wieder
aufgebaut werden, von genau den Menschen, die jetzt fliehen. Aus unseren Forschungen wissen
wir: Je länger ein Mensch fern der Heimat lebt und je weiter entfernt von der Heimat, desto
unwahrscheinlicher ist es, dass er eines Tages zurückkehrt. Also müssen wir helfen, in
Jordanien, in der Türkei, im Libanon Mikroökonomien aufzubauen, von denen auch die lokale
Bevölkerung profitiert, und wir müssen die Menschen auf den Tag vorbereiten, an dem sie
Syrien wieder aufbauen werden. Und wir müssen noch etwas tun: Wir müssen den Menschen eine
Chance bieten, auf legalem Weg nach Europa zu kommen, mit einem Einwanderungsprogramm für,
sagen wir: eine halbe Million Menschen jedes Jahr, ausgewählt nach humanitären und
ökonomischen Kriterien. Und dieses Einwanderungsprogramm darf nicht erst in zwei Jahren
anlaufen, es muss im März 2016 beginnen.
ZEIT:
Ist das nicht völlig ausgeschlossen?
Papademetriou:
Wir haben keine 18 Monate, um eine Lösung zu finden. Dieser Winter ist die letzte Chance
für Europa, sich auf eine Strategie zu verständigen.
ZEIT:
Frau Merkel sagt: Wir schaffen das! Stimmen Sie ihr zu?
Papademetriou:
Es ist etwas anderes, ob man hunderttausend Menschen integrieren will oder eine Million.
Die Herausforderung wächst exponentiell. Schon jetzt schafft es Deutschland nur so gerade
eben, das Notwendige für die Zuwanderer zu tun. Und was danach kommt, das ist noch viel
schwieriger und viel teurer. Andererseits: Wenn es ein Land schaffen kann, dann
Deutschland.
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