Montag, 16. November 2015

Flüchtlingskrise: TV-Kritik: Günther Jauch Der IS wird immer noch unterschätzt - FAZ 16.11.2015, von Michael Hanfeld

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sieht den IS auf dem Rückzug, und von „Krieg“ will bei Günther Jauch auch niemand sprechen. Wie fundamental die Bedrohung ist, haben offenbar nicht alle verstanden.
Die Massenmörder, die am Freitagabend in Paris 132 Menschen getötet und mehr als dreihundert verletzt haben, hatten ein noch viel größeres Verbrechen vor. Ihr Ziel war, ins Stade de France zu gelangen und vor laufenden Kameras, vor Millionen Zuschauern, ein Massaker unter den achtzigtausend Menschen im Stadion anzurichten.
Am 13. November 2015 wollte die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ in Paris die Attentate, die Al Qaida am 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten verübte, noch in den Schatten stellen und der ganzen Welt zeigen, was viele Menschen schon so verstanden haben: Das ist Terror, der sich als legitime, gottgewollte Kriegstaktik versteht. Das ist Terror, der allen Andersdenkenden und Anderslebenden gilt. Das ist Terror, dessen religiös-faschistische Urheber der ganzen Welt den „totalen Krieg“ erklärt und zum Ziel haben, dass diese Welt untergeht.
Insofern ist verständlich, dass der Journalist Georg Mascolo, der am Sonntagabend in der Talkshow von Günther Jauch zu Gast war, zu dem Ergebnis kommt, dass sich die Lage seit 9/11 nur noch verschlimmert habe. Damals ging es um eine international operierende, mobile Terrorgruppe mit verschiedenen Dependancen, heute haben wir es mit einem territorial gefestigten, selbsternannten Kalifat zu tun, dessen Krieger gar nicht schnell genug möglichst viele Menschen töten, Frauen vergewaltigen und versklaven, ganz Volksgruppen ausrotten können. 
„Der Islamische Staat kann geschlagen werden“ 
Es hat – zu – lange gedauert, bis der Westen begriffen hat, welche Gefahr dieser IS darstellt und auf welch fundamentale Weise er dank seiner über ganz Europa verteilten Anhänger die Gesellschaften angreift. Und bei manchen Politikern hat man den Eindruck, dass sie immer noch nicht verstanden haben, worum es geht. Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen spricht in ihrer gedehnt-belehrend-pastoralen Art, die sie auch bei Jauch den anderen Diskussionsteilnehmern gegenüber an den Tag legt, davon, dass es immerhin schon gelungen sei, die Ausbreitung des IS zu stoppen. „Der Islamische Staat kann geschlagen werden“, sagt sie in dem sanft beschwörenden Ton, den man auch von der Bundeskanzlerin kennt.
Die hatte am frühen Freitagabend mit Blick auf die Flüchtlingskrise abermals ihr „Wir schaffen das“-Mantra aufgesagt, diesmal nicht in der ARD, sondern im ZDF. Das war zwei Stunden, bevor in Paris die Hölle losbrach.
Vom islamistischen Terror und von der Flüchtlingskrise in einem Atemzug zu sprechen, deutet zwar auf einen gedanklichen Kurzschluss hin, nicht aber auf einen solch kapitalen, wie ihn Günther Jauch in einer überspitzt formulierten Frage ausdrückt. Ob der bayerische Finanzminister Markus Södermit seiner Forderung nach einer Begrenzung des Flüchtlingszuzugs nicht das Geschäft des IS betreibe, will Jauch wissen.
Das gibt Martin Schulz, dem Präsidenten des Europaparlaments, und dem Journalisten Ulrich Wickert die Gelegenheit, sich von derlei Einlassungen abzusetzen, von Verantwortungslosigkeit (Wickert) oder „Unsinn“ und „Profitschlagenwollen“ aus einer angespannten Situation (Schulz) und davon zu sprechen, dass die Flüchtlinge, die zu uns kommen, ja gerade vor dem Terror fliehen, der in Paris zugeschlagen hat. 
Von „Krieg“ spricht von der Leyen nicht 
Doch wäre es nicht, fragen wir uns in diesem Augenblick, mit Blick auf die Flüchtlingskrise für die Bundesregierung oder überhaupt für jeden verantwortungsvoll handelnden Politiker langsam an der Zeit, auf die Bedenken derer einzugehen, die mit dem Merkelschen „Wir schaffen das“ nichts mehr anfangen können, weil sie selbst nicht mehr können? Die vielen ehrenamtlichen Helfer in Bayern zum Beispiel? Und gibt es Aussicht, dass ein kontrollfreier Zustand wie jetzt, da die Bundesregierung weder weiß, wie viele Menschen ins Land gekommen sind, noch wo sie sind oder um wen es sich im einzelnen handelt, nicht der Idealzustand ist?
Es gibt immer noch eine Scheu, manche Dinge direkt anzusprechen: Ursula von der Leyen möchte zum Beispiel mit Blick auf den IS nicht so gerne von „Krieg“ sprechen – das könnte ja auch in der Nato den Bündnisfall auslösen. Den IS interessiert das freilich wenig, er hat uns allen den Krieg erklärt. Der Terrorismus, mit dem wir es zu tun haben, sagt Georg Mascolo, sei nicht importiert, er stamme „aus der Mitte unserer Gesellschaft“ – die eben nicht den Terror einführt, sondern Tausende junge Leute exportiert, die nach Syrien reisen und für den IS kämpfen wollen. 
Terror aus der „Mitte der Gesellschaft“? 
Die entscheidende Frage wird bei Jauch leider nicht gestellt: Wie kommt dieser Terrorismus überhaupt in die „Mitte der Gesellschaft“? Was ist sein – religiöser, weltanschaulicher – Hintergrund? Wer hat ihn gepflanzt? Wer unterstützt ihn? Das sind so Fragen, die Ulrich Wickert kurz mit dem Hinweis streift, dass es dem IS möglich ist, mit Rohöl jeden Tag Millionen von Dollar zu verdienen. Da gibt es Handelsrouten, Geschäftspartner und den Gebietsnachbarn Türkei, dessen Regierung einen zweifelhaften Umgang mit dem IS pflegt. 
Die unangenehmen Fragen bringt auch der Journalist Jaafar Abdul Karim von der Deutschen Welle ins Spiel, der von der Reaktion der arabischen Community in Paris berichtet (Angst vor dem Terror wie alle anderen und zugleich die Befürchtung, zu Sündenböcken zu werden) und nur kurz auf die widersprüchliche Haltung des Westens zum Nahen Osten hinweist. Liefert Deutschland nicht gerade Saudi-Arabien abermals Panzer? In das Land, in dem es jeden Tag schauerliche Hinrichtungen gibt, das ein ambivalentes Verhältnis zum IS pflegt und seinerseits den konservativen Islam exportiert, der den Nährboden des Islamismus darstellt?
Zu Beginn seiner Sendung hat Günther Jauch Julia und Thomas Schmitz zu Gast, die am Freitag in Paris im Konzertsaal Bataclan waren und dem Massenmord entkamen. „Wir hatten einen perfekten Tag“, sagt Julia Schmitz. Sie waren auf dem Eiffelturm, besuchten die Katakomben, und abends ging es ins Konzert. Sie landeten in einem Inferno, entfacht von Mördern, die in die Menge feuerten, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. „Wir werden weiter unser Leben leben“, sagt Julia Schmitz, „und Spaß haben.“ Dafür bekommt sie in Jauchs Sendung den größten Applaus.
Leserbriefe: 
Markus Klirrmann (faz_marc) - 16.11.2015 12:37 
Jauchs Diskussion zeigt einmal mehr...
das in DE Politik mit "Kirchentagsrhethorik" verwechselt wird. "Alle sind gut und Fehlgeleitete gibts nur, weil wir nicht genug Integrationsangebote haben, ewig sind wir selber schuld und keinesfalls darf der arme Flüchtling verdächtigt werden, etc.".Das ist nur ein Beispiel für das Politikversagen. Wir müssten keine Flüchtlinge verdächtigen, wenn wir nur wüssten, wer hierher kommt, also Kontrollen hätten. Es war, ist und bleibt Aufgabe der Politik für Sicherheit zu sorgen. Islamische Terroristen sind Verbrecher und viele Menschen erwarten ein deutliche Antwort auf diese Morde in Paris. Mit allem anderen machen wir uns lächerlich. 
G. Peter MULLER (GM_xx) - 16.11.2015 12:28 
Die verantwortlichen haben den Knall noch nicht gehört, müssen sie ihn erst spüren ?
Es erfüllt mich mit Schrecken wie Politiker, aber auch die Presse und sehr viele Bürger Probleme verdrängen und beschönigen. Irgendwie schon typisch deutsch. Das ist bei Weitem nicht nur beim Thema IS so. Sehr viele Probleme schwelen im Untergrund und dann wundert man sich wenn es knallt. Politiker wie v.d.Leyen brauchen wohl erst die Bombe im Vorgarten, bevor sie aus Ihrer Naivität erwachen. Und dann wundert man sich noch, daß rechts- und linksextreme Gruppen sich dieser Themen annehmen. Ich brauche keinen Terror, weder von der IS, noch von brauner Sülze oder eine neue Baader Meinhof. Aber leider haben die Verantwortlichen den Knall noch nicht gehört. Wenn wenigstens die Presse den Schneid hätte, die Probleme zu thematisieren und auf diesem Weg Druck aufbauen würde, Problem nicht zu verdrängen sondern zu lösen. 
Helga Zießler 2 (Steuern...) - 16.11.2015 12:20 
Als besonders schlimm empfinde ich...
die andauernden Beschwichtigungsversuche unserer Politiker. Natürlich wollen Merkel & Co die Bürger beruhigen. Aber ob das mit der ständigen Paraphrasierung des Merkelschen "Wir schaffen das" gelingt, ist mehr als fraglich. Die IS-Teufel werden bestimmt vor Schreck die Waffen fallen lassen, wenn sie solch pastorale Phrasendrescherei hören wie Merkels "Wir leben von der Mitmenschlichkeit, von der Nächstenliebe, von der Freude an der Gemeinschaft". Und die Verteidigungsministerin säuselt womöglich noch lieblicher daher. So etwas zeigt doch nur die absolute Rat- und Hilflosigkeit unserer "Eliten". Wissen die eigentlich wirklich nicht, dass Deutschland kein Kindergarten ist, und sie weder die "Erzieher" sind, noch wir Bürger die Kleinkinder? Es wäre ehrlicher, uns offen zu sagen, dass auch in unserem Land täglich "Paris" sein kann, statt uns mit "Gute Nacht-Liedern" zudröhnen zu wollen...:- (  
Edelgard Magnus (MariHelene) - 16.11.2015 12:15 
Der Terrorismus wird nicht importiert, sondern kommt aus der Mitte der Gesellschaft?
Was soll diese Behauptung? Auf jeden Fall haben wir dann diese "Mitte der Gesellschaft" importiert - und wir importieren sie durch unsere Willkommenskultur unkontrollierter Einwanderungsströme weiter. Warum verbieten unsere Politiker jedem, der auf einen möglichen Zusammenhang hinweist, den Mund? Bisher hat noch niemand behauptet, dass d i e Flüchtlinge Terroristen sind. Warum laufen Menschen, von denen bekannt ist, dass sie potentielle islamistische Terroristen sind, frei in den europäischen Städten herum? Unsere "Beschützer" haben damit zu tun, 13-jährige, die irgendwo ein Hakenkreuz hingeschmiert haben, zu fangen.  
michael maukisch (maukisch) - 16.11.2015 11:55 
Was ich überhaupt nicht verstehe,
nun wirft Frankreich also Bomben auf IS "Einrichtungen" ( Trainingscamps ect. ) , sind diese Einrichtungen erst seit gestern bekannt ? Warum hat man sich nicht schon viel früher darum gekümmert ? Ganz davon abgesehen, das der "Westlichen Wertegemeinschaft" auch nichts besser einfällt als Terror mit Terror zu bekämpfen. Den nichts anderes sind Bombenangriffe bei denen immer !! auch unschuldige sterben. Wieso ist der "Westen" nicht in der Lage, das wirksamste und unblutigste aller Mittel einzusetzen. Den Terroristen die "Mittel" ( Finanzen, Waffen ) zu blockieren !!! Oder besteht daran vielleicht gar kein Interesse ?  
Michael PfissŸtner 2 (ittol) - 16.11.2015 11:53 
Paris ändert alles!
Mittlerweile sprechen wir von über 130 Todesopfern. Und in Deutschland scheint in weiten Teilen des Diskurses die Hauptsorge darin zu bestehen, dass jetzt "der rechte Rand die Anschläge instrumentalisiert". Appeasement gegenüber islamisch dominierten Parallelgesellschaften ermöglicht erst Terror. Wo bleibt die Verfolgung von Hasspredigern, die Schließung fundamentalistischer Koranschulen, das Verbot von sogenannten Friedensrichtern, Razzien und Zerschlagung salafistischer Infrastruktur?  
Karl Schurz 2 (c.schurz) - 16.11.2015 11:18  
"Wie fundamental die Bedrohung ist, haben offenbar nicht alle verstanden. "
Wohl wahr. Die "nicht alle" gehören zur "Führungselite Deutschlands". Mehr will ich nicht mehr dazu sagen. 
Thomas Lehr 1 (thomaslehr) - 16.11.2015 10:24
Nix gelernt? 
Das letzte Mal, als der Westen gegen Al Quaida Krieg! Krieg! Krieg! gerufen hat ...
hat der Westen zwei Kriege gekämpft, dem Monster ja auch irgendwie den Kopf abgeschlagen, und siehe da wie viele Köpfe nachgewachsen sind. Das biblische "Auge um Auge" scheint nicht zu funktionieren und wir sollten dem IS nicht so einfach auf den Leim gehen, indem wir seine ausgelegten Spuren (Pässe am Anschlagsort, die auf Terroristen unter den Flüchtlingen weisen) in seinem Sinne interpretieren und nun die Opfer seines Krieges aussperren. Wir sollten ihm auch nicht auf dem Leim gehen, indem wir ihn jetzt militärisch bekämpfen und wahrscheinlich besiegen - die Köpfe werden nachwachsen. Diesen Sumpf legt man trocken, indem man ihm den Nachschub abschneidet: finanziell (Ölhandel), technisch (Waffenexporte) aber vor allem vor Ort im Irak und Syrien (Perspektiven für die, die den IS groß gemacht haben, vor allem Saddams Ex-Militärs).

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