Gastbeitrag von Boris Palmer in der FAZ v. 10.11.2015
In der Flüchtlingsdebatte scheint es nur Extreme zu geben. Dabei brauchen wir eine lösungsorientierte Debattenkultur in einer zutiefst strittigen und den Kern des menschlichen Daseins berührenden Frage. Sieben Punkte, die uns in der Flüchtlingskrise voranbringen.
In der Flüchtlingsdebatte scheint es nur Extreme zu geben. Zwischen Willkommens-Teddybären und Pegida-Galgen ist ein nüchtern-sachlicher Diskurs kaum noch möglich. Wer Zweifel daran äußert, dass Deutschland die immer weiter wachsenden Flüchtlingszahlen noch lange bewältigen kann, wird in einen Topf mit Rechtsradikalen geworfen, muss sich aber mindestens gefallen lassen, angeblich deren Geschäft zu besorgen. Wer Hilfe für Flüchtlinge weiterhin für moralisch geboten und in einer reichen Gesellschaft für leistbar hält, wird mindestens als Heuchler oder Gutmensch beschimpft und gefragt, wie viele Flüchtlinge man schon in der eigenen Wohnung aufgenommen habe. Unter die Räder gerät so die dringend nötige Suche nach einem hinreichend großen Konsens in dieser für unsere Gesellschaft mittlerweile existentiellen Frage. Was wir brauchen, ist eine lösungsorientierte Debattenkultur in einer zutiefst strittigen und den Kern des menschlichen Daseins berührenden Frage. Ich möchte dafür sieben Leitlinien vorschlagen.
Alternativen zulassen
Der Kurs der Kanzlerin wird häufig damit verteidigt, es gäbe keine Alternative. Weder lasse das Grundgesetz es zu, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen, noch gebe es dazu eine Möglichkeit. Beides ist nachweislich falsch. Das Grundgesetz gewährt unbegrenzten Schutz nur für politisch Verfolgte. Grenzen lassen sich kontrollieren. Wer das Gegenteil behauptet, produziert Angst und Ohnmachtsgefühle. Wir müssen uns bewusst zur Hilfe entscheiden und darüber diskutieren, wie weit unsere Hilfsbereitschaft geht.
Nur Fremdenfeinde ausgrenzen
Ja, es gibt sie, die unappetitlichen Ewiggestrigen vom rechten Rand. Diesen muss man mit aller Macht entgegentreten. Die ganze Härte des Gesetzes muss Brandstifter und Gewalttäter treffen. Aber mittlerweile sind berechtigte Sorgen und Ängste bis weit in grüne und rote Kreise verbreitet. Wer nicht der These von der Pflicht zur unbegrenzten Hilfe zustimmen will, darf nicht gleich mit Pegida oder Nazis verglichen oder als deren Wegbereiter beschimpft werden. Wir brauchen ein faires und offenes Diskussionsklima.
Fakten ermitteln und offenlegen
Die Statistik des zuständigen Bundesamtes erfasst derzeit nicht einmal die Hälfte der Flüchtlinge, verlässliche Aussagen sind so gut wie unmöglich. Wenn es keine Klarheit über die Fakten gibt, gedeihen Halbwahrheiten und Spekulationen. Die Gesellschaft kann nur angemessen diskutieren, wenn es klare Grundlagen gibt. Wir müssen wissen, wie viele Menschen zu uns kommen, welches Alter, Geschlecht und welche Qualifikation sie haben. Das Bundesamt für Asyl muss diese Aufgabe endlich erfüllen.
Pläne und Szenarien entwerfen
Die Debatte scheitert nicht nur an fehlenden Fakten, sondern auch an fehlenden Plänen. Die Schwierigkeiten liegen vor allem in der Zukunft, nicht in der Gegenwart. Nun ist es richtig, dass im Moment keine richtige Prognose gegeben werden kann. Es ist aber möglich, Annahmen zu treffen und Szenarien zu bilden. Es könnte zum Beispiel ein Szenario mit europäischer Umverteilung der Flüchtlinge geben und eines, in dem Deutschland auf sich allein gestellt ist. Die EU-Kommission ist da weiter als Deutschland und hat immerhin einen Anfang gemacht, indem sie bis Ende 2016 rund drei Millionen Flüchtlinge prognostiziert. Das macht die Herausforderung nicht kleiner, aber beschreibbar.
Belastungsgrenzen definieren
Nein, eine fixe Obergrenze ist nicht sinnvoll und nicht umsetzbar. Es gibt aber Belastungsgrenzen. Wo diese liegen, hängt von Setzungen ab. Wie viel Geld wollen wir für Flüchtlinge ausgeben? Welche Steuern werden dafür erhöht? Wie viel Arbeitslosigkeit bei den Flüchtlingen können wir akzeptieren? Wie viel Druck auf den Arbeitsmarkt für unsere Bürger halten wir aus? Sollen die Flüchtlinge in Hallen oder in Wohnungen untergebracht werden? Wie viele Sozialwohnungen bauen wir für Einheimische? Ist das Ziel vollständige Integration in die Gesellschaft oder Nothilfe und Lebensrettung bis zur Rückkehr nach Ende des Krieges? Nur wenn man die Antwort auf diese Fragen findet, kann man sagen, ob wir überfordert sind. Und die Antworten gibt es nur als Ergebnis einer Debatte. Es geht nicht an, dass die eine Hälfte der Gesellschaft der anderen Hälfte ihren Maßstab für Hilfsbereitschaft verordnet.
Europa mit denken
Solidarität von Europa einzufordern hat in deutschen Medien mittlerweile fast schon einen wütenden Unterton bekommen. Wer eine europäische Lösung will, muss aber die Augen für unsere Nachbarn öffnen. Nahezu alle unsere Nachbarländer sind nur bereit, eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Das sollten wir nicht einfach moralisch verurteilen, sondern uns fragen, welche Gründe es dafür gibt und ob sie überwunden werden können. Spielt es eine Rolle, ob 50 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind, wie in Spanien? Ob rechte Regierungen drohen, wie in Frankreich? Ob ein Land in der EU bleibt, wie Großbritannien? Nur mit Verständnis für die Probleme der anderen kann es zu einer Verständigung kommen. Wir dürfen unsere Definition von Humanität nicht so absolut setzen, dass Europa daran zerbricht. Im Zweifel heißt ein europäischer Kompromiss: Europa nimmt mehr Flüchtlinge auf als heute, aber viel weniger, als Deutschland für notwendig hält.
Offene Kommunikation
Die Willkommenskultur hat bei vielen Flüchtlingen hohe Erwartungen geweckt. Viele kommen nicht, um das nackte Leben zu retten, sondern um ein neues Leben zu beginnen. Sie wollen ihre Familie nachholen und bald arbeiten oder studieren. Wir müssen klären, ob wir auch diese Perspektiven unbegrenzt anbieten wollen oder Grenzen der Einwanderung definieren, jenseits derer wir niemandem mehr als Unterkunft, Kleidung und Ernährung sichern können. Sollten wir Grenzen ziehen wollen, müssen sie definiert sein. Geht es entlang der Qualifikation, der Integration in den Arbeitsmarkt oder der Erfolge im Spracherwerb? Machen wir Unterschiede nach Herkunftsländern? Garantieren wir den Familiennachzug? In jedem Fall müssen die Flüchtlinge wissen, was wir ihnen versprechen. Sonst sind Enttäuschungen auf beiden Seiten programmiert.
Der Autor (Bündnis 90/Die Grünen) ist Oberbürgermeister von Tübingen.
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