Freitag, 5. November 2021

Fehlende Intensivbetten - Das stinkt zum Himmel

Fehlende Intensivbetten - „Das stinkt zum Himmel“

Wie schon im Herbst 2020 mehren sich derzeit die Meldungen, nach denen die Intensivstationen allmählich an ihre Grenzen stoßen. Damals hat der Gesundheitsökonom Matthias Schrappe errechnet, dass die Datengrundlage für diese Behauptung fehlerhaft ist – ein Vorwurf, der später auch vom Bundesrechnungshof erhoben wurde. Wie also ist die aktuelle Lage tatsächlich einzuschätzen? Cicero traf Schrappe zum Interview.

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und Gesundheitsökonom. Neben zahlreichen Lehraufträgen in Köln, Marburg und Trier war er unter anderem Hauptamtlicher Ärztlicher Direktor des Marburger Universitätsklinikums sowie wissenschaftlicher Geschäftsführer der Medizinischen Fakultät der Universität Witten/Herdecke. Schrappe war Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Zusammen mit einer Autorengruppe hat er in den letzten Monaten zahlreiche Stellungnahmen zur Corona-Pandemie veröffentlicht und unter anderem den sogenannten DIVIgate-Skandal ins Rollen gebracht. 

Herr Schrappe, eine alte Baderegel unter Schwimmern besagt, dass man niemals um Hilfe rufen soll, wenn man keine Hilfe benötigt. Nun haben Krankenhäuser und Intensivmediziner im letzten Corona-Winter immer wieder mal lautstark um Hilfe gerufen, weil ihrer Einschätzung nach die Intensivstationen vollliefen und die Krankenhäuser an ihr Limit kämen. Sie, und später auch der Bundesrechnungshof, haben indes nachgewiesen, dass die Daten, auf denen der damalige Alarmismus fußte, lückenhaft, ja in Teilen sogar falsch waren. Nun beginnt erneut der Herbst, und es wird abermals laut gerufen. Wie glaubhaft ist das alles?

Das ist überhaupt nicht glaubhaft. Die Verbände und diejenigen, die da unentwegt rufen, sollte man lieber mal an ihren eigentlichen Auftrag erinnern. Und die Krankenhausträger wiederum sollte man verpflichten, ausreichend Personal zur Verfügung zu stellen. 

Der Bundesrechnungshof hat damals unter anderem darauf hingewiesen, dass der Bund bereits im Februar 2020 gut 14.200 Beatmungsgeräte zusätzlich besorgt habe. Davon seien aber lediglich 4.500 tatsächlich von den Krankenhäusern abgerufen worden. Wo sind denn all die anderen Beatmungsgeräte hin? 

Das ist eine von vielen interessanten Fragen. Ebenso wurden ja auch 600 Millionen Euro für die Neuanschaffung von Intensivbetten bereitgestellt, die anschließend von den Krankenhäusern vereinnahmt worden sind. Diese Betten aber sind gar nicht da, oder sie sind noch immer eingepackt. Warum also, so muss man sich fragen, wird das Geld nicht zurückgezahlt? 

 

Weil der Kollaps ja immer noch kommen könnte.

Wir, wie auch der Bundesrechnungshof, haben gezeigt, dass die Auslastung der Intensivbetten von 2019 auf 2020 um ein Prozent gesunken ist. Und auch danach hat es keinen Anstieg der Belegungen gegeben. Es waren also während der gesamten Krise immerzu Intensivbetten frei.<p>%paywall%</p>

Und es gab keine Überlastung?

Natürlich hat es punktuell auch Überlastungen gegeben, keine Frage – zumal die Covid-Patienten ja nicht in jedem Krankenhaus in gleichem Maße behandelt wurden. Dennoch muss man festhalten, dass die Krankenhausbetreiber das Geld offenbar nicht nur bei der Patientenversorgung eingesetzt haben, sondern zur Verbesserung ihrer Bilanzen. Die Helios-Kliniken etwa konnten 2020 die höchste Dividende in ihrer Geschichte an die Aktionäre ausschütten. Die Gelder scheinen also offensichtlich ganz woanders angekommen zu sein. Und es wäre ja mal ganz interessant, an dieser Stelle weiter zu recherchieren.

Stattdessen hat es nach ihren Stellungnahmen sowie nach den Recherchen des Bundesrechnungshofs einen kurzen Aufschrei gegeben, danach war das Thema vom Tisch. 

Davon ist in der aktuellen Debatte um die erneute Zuspitzung in den Kliniken in der Tat nur noch wenig zu hören. Dabei ist es mindestens ein juristisches Problem zwischen den Kostenträgern, also den Krankenkassen, und den Krankenhäusern und Klinikbetreibern. Die Medien aber haben das Thema fallen gelassen. Zwar haben einige Journalisten darauf hingewiesen, dass wir mit unseren Analysen und Stellungnahmen längst die Aufgabe übernommen hätten, die in der Demokratie eigentlich ihnen zugedacht sei, und dennoch schweigen sich die Medien weiter aus. Ich sage Ihnen: Die ganze Sache stinkt zum Himmel. Da sind 15 Milliarden Euro an die Krankenhäuser verteilt worden, sodass das Jahr 2020 zumindest für die Krankenhäuser zum wirtschaftlich erfolgreichsten Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen werden konnte, und keiner fragt mal, wo das Geld eigentlich geblieben ist. Stattdessen wird weiterhin Mangel proklamiert. 

Wo ist es denn Ihrer Meinung nach geblieben?

Zunächst einmal haben die Krankenhäuser Gelder dafür bekommen, dass sie Betten offen gehalten haben. Das konnte man am Beginn der Pandemie auch durchaus verstehen. Später war es dann aber so, dass sie Ausgleichszahlungen bekamen, wenn sie weniger als 25 Prozent freie Intensivbetten hatten. Wenn Sie also 20 Intensivbetten haben und 15 davon sind belegt, dann haben sie zwei Möglichkeiten – und eine davon kostet gar nichts, bringt aber viel Geld: Sie melden für den kommenden Tag einfach, dass sie nur noch 19 betreibbare Betten haben. Dann sind sie mit den restlichen vier offenen Betten unter die besagte 25-Prozent-Marke gefallen, bekommen eine erhebliche Ausgleichszahlung und müssen als Gegenleitung eigentlich nichts tun. Ganz anders bei der zweiten Möglichkeit: Hier gehen sie ihrem Auftrag nach. Sie nehmen einen weiteren Patienten auf. In diesem Fall bekommen sie zwar auch die Prämie, haben aber auch einen weiteren Patienten, der Kosten verursacht. Von den Bilanzen gesehen ist das natürlich die ungünstigere Variante. Also haben die Kontrolleure in den Kliniken die Oberärzte auf den Intensivstationen angerufen und ihnen gesagt, dass ein Bett von der Station runter muss. Keine Ausgaben, kein Aufwand. 

Die Kliniken behaupten indes – und das auch jetzt wieder vermehrt –, dass ihre Personaldecke nicht ausreichen würde, um das zwanzigste Bett aus ihrem Beispiel effektiv zu betreiben.

Dieser Punkt fällt in die Planungshoheit der Krankenhäuser. Um das nachzuprüfen, bräuchte man externe Kontrolleure. Eigentlich wäre es die Pflicht der Politik, dem nachzugehen. Aber vermutlich will man es hier gar nicht so genau wissen; das könnte am Ende ja das eigene Narrativ zerschießen.

Dennoch ist ja der Pflegenotstand offensichtlich.

Ja, und ebenso offensichtlich ist, dass die Politik nicht handelt. Statt jetzt immer mit hängenden Schultern rumzulaufen, wäre es endlich Zeit für eine Pflegeoffensive. Es gibt in Deutschland zigtausend Pflegekräfte, die sich aufgrund mangelnder Wertschätzung aus dem Beruf zurückgezogen haben. Warum bieten wir diesen Menschen nicht Wiedereinstiegsprämien von 5.000 bis 10.000 Euro an, wenn sie sich in der kommenden Woche wieder in einem Krankenhaus melden. Ein solches Programm könnte man ja mal verlangen. Anstatt der derzeit freien 19.000 Intensivbetten sollten binnen 14 Tagen wieder 25.000 betriebsbereit sein und danach, wiederum 14 Tage später, 30.000. Das wäre eine nationale Initiative, für die sich die Politik stark machen sollte. Die Bundesagentur für Arbeit hat übrigens festgestellt, dass es im letzten Jahr keinen Mangel, sondern ein Plus von 43.000 Pflegekräften gegeben hat. Hier liegt die Frage ja nahe, wo diese Pflegekräfte beschäftigt sind und welche Qualifikation sie mitbringen.

Der Bundesrechnungshof hat im Frühjahr ja auch angemerkt, dass die Möglichkeit der Beeinflussung der Belegungsdaten weiterhin gegeben sei. Das heißt, die Möglichkeit besteht bis heute?

Mir ist nichts anderes bekannt.

Was müssten DIVI, RKI und Bundesgesundheitsministerium denn tun, um die Daten zur Pandemie und besonders zur Intensivbettenbelegung endlich fehlerfrei zu bekommen?

Bis zum 6. Mai dieses Jahres haben wir ja nicht einmal gewusst, welches Geschlecht die Intensivpatienten hatten, geschweige denn, welches Alter. Ich will hier keinen Grundkurs in klinischer Epidemiologie geben, aber es ist leicht zu verstehen, dass etwa das Wissen um Begleiterkrankungen der Patienten hilfreich sein könnte. Es fehlen oftmals die Basisdaten. Oder, um es noch schlimmer zu machen: Wir haben eigentlich all diese Daten. Für die Abrechnung werden sie tagtäglich herangezogen; Millionen, Abermillionen Daten. Wir kennen sogar die Laborwerte der Patienten. Aber für die wesentlichen Fragestellungen werden sie nicht genutzt. 

Weil der Datenschutz das verhindert?

Nein, der Verweis auf den angeblich zu rigiden Datenschutz lenkt davon ab, dass man sich nicht um die eigentlich existenten sowie um weitere dringend zu erhebende Daten bemüht hat.

Bliebe am Ende also nur Vorsatz.

Ich sehe unsere Aufgabe nicht darin, weitere Hypothesen zu diesem Komplex in die Welt zu bringen. Wir haben für unsere Stellungnahmen genug Gegenwind und Prügel einstecken müssen. Aber dass der Vorsatz zu diskutieren ist, ist doch klar – vor allem, wenn der Bundesrechnungshof mit höflichen Worten von „unerwünschten Mitnahmeeffekten“ spricht. 

Warum eigentlich machen Sie sich zusammen mit ihrer Autorengruppe eigentlich die ganze Mühe, wenn Sie am Ende so viel Kritik einstecken? Sie sind doch eigentlich längst im Ruhestand.

Weil Innovation nur aus Neugier entstehen kann und weil der freie Diskurs und eine liberale Grundeinstellung das Grundprinzip unserer Zivilisation sind. Wir haben uns gerade auch in der Corona-Krise als Gesellschaft sehr eingeengt. Wir erleben derzeit einen geradezu epochalen Rückfall. Nehmen sie nur die Forschung: Christian Drosten ist ein typischer Vertreter der Laborforschung. Diese Forschung ist wichtig; was aber in Deutschland immer schon zu kurz kam, das ist die angewandte Forschung vor Ort mit Patienten und Patientinnen. Nur so bekommt man auch die sozialen Bedingungen von Krankheit in den Blick. Es geht nicht nur um Laborwerte und Virus-Diagnostik. Die Grundlagenforschung hat in dieser Krise Abermillionen von Euro abgesahnt, während die angewandte Forschung weiter in den Hintergrund gerückt ist. Das ist eine weitere Geschichte dieser Krise. Und ich könnte ihnen noch viele andere Geschichten erzählen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen