Die FOCUS-Kolumne von Jan Fleischhauer
Samstag, 21.03.2020, 10:02
Wissen
sie, was sie tun? Die Regierung macht die Grenze zu Frankreich dicht,
aber aus dem Iran konnte man weiter ungehindert einreisen. Lauter
hustende Ägypten-Urlauber im Heimatflieger, doch bei der Ankunft
verzichtet man auf jede Gesundheitskontrolle.
Ich
kann genau sagen, wann mein Vertrauen in die Regierung einen schweren
Dämpfer erhalten hat. Es war am Montagmorgen (16.03.), kurz vor zehn
Uhr, als Iran Air 721 Kurs auf Frankfurt nahm.
Eine Bekannte, die ARD-Journalistin
Natalie Amiri, hatte einen Screenshot des Fluges gepostet, man konnte
über FlightStats die Route in Echtzeit verfolgen. IR 721 war um 7.40 Uhr
auf dem Imam Khomeini Airport in Teheran gestartet. Um 10.06 Uhr
landete der Airbus in Deutschland, 14 Minuten früher als vorgesehen.(siehe: Video )
Iran
ist ein Hotspot der Corona-Krise. Niemand weiß genau, wie viele
Menschen dort infiziert sind, weil die Regierung den Ausbruch lange
heruntergespielt hat. Den offiziellen Zahlen zufolge, die Natalie Amiri
am Montag nannte, zeigten von 7,5 Millionen Iranern, die binnen drei
Tagen getestet wurden, 175.000 Symptome, 2200 wurden zum Arzt geschickt,
1077 gleich ins Krankenhaus.
Weder Temperaturmessung noch Quarantäne
Das war also der Stand Anfang der Woche: Die Bundesregierung verfügt Grenzkontrollen zu allen Nachbarländern. An den Grenzen zu Frankreich, Österreich, der Schweiz beziehen Bundespolizisten Posten, um jeden Wagen anzuhalten und gegebenenfalls zurückzuweisen. Der europäische
Grenzverkehr kommt praktisch zum Erliegen. Aber aus einem der am
höchsten durchseuchten Länder der Welt können Menschen ohne jeden
Gesundheits-Check einreisen.
Es
gab weder eine Temperaturmessung bei der Passvorlage, noch nahm man die
Reisenden in Quarantäne, wie es medizinisch geboten gewesen wäre. Erst
am Dienstag, nach heftigem Protest, fiel dann die Entscheidung, die
EU-Außengrenze zu schließen.
Das
ist wiederum eine sehr viel drastischere Maßnahme als die Verordnung
einer vierzehntägigen Quarantäne für alle, die nach Deutschland
einreisen wollen. Niemand kann erklären, warum man binnen 48 Stunden von
einem Extrem ins andere fällt. Aber es hat auch niemand gefragt.
„Flatten the curve“ hat es zu einer Art politischem Heilsversprechen gebracht
Wissen
sie in der Regierung, was sie tun? Das wäre meine Frage. Es gehe nicht
darum, den Ausbruch zu verhindern, dazu sei es längst zu spät, lautet
das Mantra. Es gehe darum, den Infektionsanstieg zu verzögern.
Jeder
kennt inzwischen das Schaubild, das zwei Kurven zeigt: eine Kurve, die
steil nach oben ragt und dann ebenso schnell wieder abfällt – und eine
lang gestreckte, die eher einem sanften Hügel als einem Berg gleicht.
Im
unteren Drittel des Schaubildes verläuft horizontal ein Strich, der die
Zahl der Intensivbetten in Deutschland symbolisiert. Beruhigenderweise
bleibt die Kurve der Ansteckungen im Fall des Hügelverlaufs exakt
unterhalb dieser Linie. „Flatten the curve“, lautet die Botschaft, die
es zu einer Art politischem Heilsversprechen gebracht hat: Wenn es uns
gelingt, die Infektionsrate zu verlangsamen, gibt es für jeden, der es
braucht, ein Bett.
Gesundheitssystem könnte an seine Grenzen geraten
Ich
bin ein skeptischer Mensch. Ich habe angefangen zu rechnen. Wenn es
stimmt, was die Bundeskanzlerin sagt, dann werden sich 60 Prozent der
Deutschen mit dem Virus anstecken. Das wären 50 Millionen Bundesbürger.
Selbst wenn es uns gelänge, die Übertragung auf zwei Jahre zu strecken,
würde das immer noch zwei Millionen Infizierte pro Monat bedeuten.
Bei
80 Prozent der Infizierten verläuft die Corona-Grippe harmlos, das ist
die gute Nachricht. Aber fünf Prozent benötigen intensivmedizinische
Betreuung. Fünf Prozent von zwei Millionen macht 100.000
Intensivpatienten, also das Vierfache dessen, was unser
Gesundheitssystem bewältigen kann. Wahrscheinlich habe ich irgendwo
einen Rechenfehler gemacht. Trotzdem hat mich das Zahlenexperiment
beunruhigt.
Man kann das Virus in den Griff bekommen, daran hat auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier gerade erinnert. In Singapur,
Hongkong, Taiwan und auch Südkorea sind die Fallzahlen
heruntergegangen. Was Altmaier nicht sagt, ist, dass sie in all diesen
Ländern sehr viel mehr getan haben, als an die Menschen zu appellieren,
sich von anderen fernzuhalten.
In Südkorea überwachen sie die Bewegungen infizierter Personen per App
Wie
sieht eine erfolgreiche Anti-Corona-Strategie aus? Es fängt damit an,
dass man seine Bevölkerung wieder und wieder testet, um diejenigen zu
identifizieren, die das Virus in sich tragen. Dann muss man sie
isolieren, und zwar konsequent.
In
Südkorea überwachen sie die Bewegungen infizierter Personen per App.
Wer sich angesteckt hat, ist über GPS als Corona-Träger sichtbar, damit
alle, die gesund sind, Abstand halten können. Ich höre schon die
Datenschützer rufen, das gehe nicht, weil das einen unzulässigen
Eingriff in die Privatsphäre darstelle. Nun ja, würde ich sagen, das
Infektionsschutzgesetz lässt auch ansonsten massive Einschränkungen zu.
Wenn
ich die Wahl habe zwischen der Isolierung Einzelner und einem dauernden
Hausarrest für alle, dann bin ich für die strikte Isolierung. Ich habe
mich oft über die asiatischen Touristen mokiert, die mit einer OP-Maske
vor dem Gesicht Münchner Sehenswürdigkeiten in Augenschein nahmen.
Das
war bis vor vier Wochen bei einem Deutschland-Besuch sicher
übertrieben, aber man konnte daran sehen, dass es in asiatischen Ländern
aufgrund der Erfahrung mit tödlichen Grippen eine deutlich
ausgeprägtere Ansteckungsangst gibt. Deshalb wussten sie dort auch
sofort, was auf sie zukommen würde, als die ersten Nachrichten aus der
chinesischen Stadt Wuhan eintrafen.
Schon ein Tuch vor dem Gesicht Leben retten
Eine
Atemmaske ist ein relativ einfaches Produkt. Ein bisschen Zellstoff,
dazu ein Band, mit dem man das Ganze am Kopf befestigen kann – nichts,
was eine Industrienation überfordern sollte. Dennoch scheint die Politik
auch im dritten Monat seit Ausbruch der Corona-Epidemie nur mit großer
Mühe im Stande, die Ausrüstung des medizinischen Personals selbst mit
den simpelsten Masken sicherzustellen, von der Versorgung normaler
Bürger gar nicht zu reden.
Auf
allen Kanälen ist jetzt zu hören, dass ein Mundschutz nicht vor
Ansteckung schütze. Das mag sein, aber er hilft, die Zahl der
Neuansteckungen zu reduzieren. Wenn sich das Virus vor allem über
Sprechatem und Husten überträgt, wie die Virologen nicht müde werden zu
betonen, dann kann schon ein Tuch vor dem Gesicht Leben retten.
Der China-Korrespondent
Georg Fahrion beschrieb anlässlich seines Heimatbesuchs die
Verwunderung über die Nachlässigkeit der Deutschen. Natürlich trug er
eine Maske, als er das Flughafengebäude verließ und ins Taxi stieg.
Niemand würde in Peking auf die Idee kommen, sich mit nacktem Gesicht an
einen Ort zu begeben, wo viele Leute aufeinandertreffen. Man würde auch
gar nicht weit kommen.
„Null Kontrolle bei Abflug und Ankunft“
„Null Kontrolle bei Abflug und Ankunft“
Vielleicht sollten wir anfangen, von den Asiaten zu lernen. Am Dienstag setzte der „Bild“-Redakteur Michael Sauerbier auf Twitter folgenden Eintrag ab: „Aus Ägypten in Berlin-Schönefeld
gelandet. 200 Urlauber ohne Mundschutz und Handschuhe, viele husteten.
Sie waren ein bis zwei Wochen mit Italienern, Franzosen, Engländern, Niederländern, Polen,
Russen in All-inclusive-Hotels, wo alle am Büfett dieselben Löffel
anfassen, 300 zeitgleich im Restaurant. Null Kontrolle bei Abflug und
Ankunft, laufen jetzt durch Berlin.“
Man
ist in der Politik bereit, den Einzelhandel zu zerstören, indem man
Geschäften für Wochen die Existenzgrundlage entzieht. „Fair enough“, wie
der Brite sagen würde. Harte Zeiten erfordern manchmal harte Maßnahmen.
Aber gleichzeitig sind die Verantwortlichen nicht willens, hustende
Urlauber für 14 Tage in Quarantäne zu nehmen, weil das die Laune der
Urlauber beeinträchtigen würde? Das verstehe, wer will. Ich verstehe es
nicht.
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