Samstag, 28. März 2020

Wo er stark sein sollte, ist er schwach... Staatsversagen im Zeichen der Corona-Pandemie (NZZ)

Wo er stark sein sollte, ist er schwach, und wo er schwach sein sollte, ist er stark: Über Staatsversagen im Zeichen der Corona-Pandemie (NZZ)
Jahrelang haben Politiker über Unisex-Toiletten oder politisch korrekte Sprache diskutiert. Damit dürfte es nun erst einmal vorbei sein. Und es stellt sich ernsthaft die Frage: Was gehört zu den Kernkompetenzen eines funktionierenden Staates (und was nicht)?
Rainer Zitelmann  
«Wir befinden uns im Krieg», wiederholte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron immer wieder in seiner Fernsehansprache an die Nation. Und was Macron offen ausspricht, denken viele insgeheim. Krieg bedeutet, dass Gesellschaft, Wirtschaft und Politik nur noch ein Ziel haben – nämlich den Feind zu vernichten, koste es, was es wolle.
Nachdem Politiker in fast allen Ländern die vom Coronavirus ausgehende Gefahr zunächst in erschreckendem Ausmaß ignoriert und unterschätzt haben, wissen jetzt alle, dass sich früher oder später ein Grossteil der Menschen anstecken – und dass es weitere Tausende Tote geben wird. Eigenartigerweise gesteht jedoch kaum ein Politiker öffentlich ein, dass die Krise fast jeden Einzelnen auch wirtschaftlich massiv treffen und zu Einkommens- und Vermögensverlusten führen wird. Stattdessen suggerieren Regierungen, sie würden dafür sorgen, dass kein Arbeitnehmer arbeitslos werde und kein gesundes Unternehmen pleitegehen werde. Schön wär’s.
Die Illusion der Nachgeschichtlichkeit
Früher wussten die Menschen, dass sie für Krisen und Katastrophen vorsorgen mussten, frei nach Schillers Sentenz «Der kluge Mann baut vor». Berichte über Zeiten der Not, ausgelöst durch Missernten, Naturkatastrophen oder eben Kriege, wurden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Obwohl die Menschen viel weniger Geld hatten hat als heute, antizipierten sie in grosser Nüchternheit künftige Durststrecken. Sie verstanden den Lauf der Dinge eher als Idee eines Auf und Ab denn als Perpetuierung des Status quo. Die Idee eines Endes der Geschichte, in der die wesentlichen Kämpfe ausgefochten und die grössten Gefahren gebannt sind, war ihnen vollkommen fremd.
Dies war ein Realismus, der bis vor kurzem als Pessimismus galt. Ich erinnere mich noch an die achtziger Jahre, als meine damalige Frau und ich über meinen Schwiegervater schmunzelten, weil er im Keller grosse Vorräte an Konserven und Lebensmitteln für Zeiten der Not angelegt hatte. «Ihr habt keinen Krieg erlebt», entgegnete er uns.
Der Wohlfahrtsstaat hat den Menschen die Illusion vermittelt, sie selbst seien nicht mehr verantwortlich, für Zeiten der Krise und der Not oder für das Alter Vorsorge zu treffen. Der Staat wird es schon richten, so lautet das Versprechen der Politik und die tiefe Überzeugung der meisten Menschen.
Ob Arme, Reiche oder Angehörige der Mittelschicht: Alle erwarten, dass der Staat es in jeder Situation richten wird. Börsianer rechnen nicht erst seit der letzten Finanzkrise damit, dass die Zentralbanken durch Nullzinspolitik und unbegrenzte Anleihekäufe dafür Sorge tragen, dass die Aktienkurse nicht ins Bodenlose fallen. Die Zentralbanken schießen mit immer grösseren Kanonen, aber die Wirkung wird immer kleiner – wie bei einem Drogenabhängigen. Banken erwarten sowieso, dass sie vom Staat gerettet werden, auch das kleinste Bankhaus gilt inzwischen als systemrelevant. Grosse Unternehmen gehen selbstverständlich davon aus, dass der Staat sie stützt, weil es sonst viele Arbeitslose geben wird. Und kleine Selbständige rufen verständlicherweise: «Wo bleibe ich?»
Die Abhängigkeit vom Staat wächst
Wenn jemand die Frage stellt, ob es nicht unverantwortlich sei, wenn ein Selbständiger in sonnigen Zeiten nicht einmal für zwei oder drei Monate Rücklagen gebildet habe, dann ist die Reaktion so ähnlich, als ob jemand auf einer Beerdigungsfeier laut einen Witz erzählt hätte. Es herrscht eisernes Schweigen.
Dabei geht es uns allen heute wesentlich besser als vor 50 oder gar 100 Jahren. Nur dass die Menschen damals noch eher ein Bewusstsein von Eigenverantwortung hatten: In schwierigen Zeiten rief man nicht zuerst nach dem Staat, sondern Familien halfen sich, und viele hatten etwas gespart. Sparen hat der Staat jedoch seit vielen Jahren schwergemacht, da die Zinsen durch die Nullzinspolitik der Zentralbanken faktisch abgeschafft wurden. Vielen Menschen wird durch eine längst absurde Steuerlast so viel genommen, dass netto wenig vom Brutto übrig bleibt, und was dann noch erübrigt wird, wird nicht verzinst, wenn man es anlegt. So wurde die Abhängigkeit vom Staat immer grösser.
Wie ein Schlaglicht zeigt die Corona-Krise, was schiefläuft in unserer Gesellschaft: Der Staat ist dort schwach, wo er stark sein sollte. Zu diesen Kernaufgaben gehören die Gesundheitsvorsorge und funktionierende Krisenprogramme – beispielsweise für den Fall einer Pandemie.
Dass es früher oder später zu einer Pandemie kommen würde, konnte jeder Politiker wissen, aber sie kümmerten sich lieber um andere Themen. In Deutschland beispielsweise wurde mit Inbrunst über das dritte Geschlecht, Political Correctness und ähnlich wichtige Fragen diskutiert, aber heute wundert sich jeder, warum nicht einmal ausreichend Atemschutzmasken vorhanden sind.
Zugleich ist der Staat dort stark, wo er schwach sein sollte, also vor allem im Bereich der Wirtschaft, wo immer mehr reguliert und sozialisiert wurde. Und hier zeigt sich nun: Wo der Staat viel nimmt, muss er immer noch mehr geben (bis er nicht mehr kann).
Die Lektion aus der Krise
Den bekennenden Etatisten kommt dies sehr gelegen. «Wir wissen», so erklärte jüngst die Sprecherin der grünen «Fridays for Future»-Bewegung in Deutschland, Luisa Neubauer, «dass politischer Wille, wenn er denn da ist, Berge versetzen kann. Das erfahren wir in der Corona-Krise gerade hautnah.» Und weiter – es lohnt sich, das Quote in extenso zu zitieren: «Was dieser Tage politisch abgeht, entblösst am Ende des Tages auch die Verweigerungshaltung der Bundesregierung, die Klimawissenschaft ernst zu nehmen und das Pariser Abkommen einzuhalten. Was im besten Fall passieren kann, ist, dass wir aus der Krisenerfahrung eine Krisenbewältigungserfahrung machen.»
Selbst die massive Ausserkraftsetzung von Freiheitsrechten wird als Mustervorlage für die ökologische Umgestaltung der Gesellschaft gefeiert. Das Vollkasko-Versprechen des überschuldeten Wohlfahrtsstaates nährt vermessene Machbarkeitsillusionen, die schon bald von der Realität eingeholt werden.
Im besten Fall könnten die Menschen aus der Krise lernen, dass der Staat sich wieder auf seine Kernaufgaben konzentrieren und diese aber endlich richtig ausführen soll. Dazu gehört der Schutz vor Pandemien, denn diese wird nicht die letzte bleiben.
Diese Kraft hat der Staat aber nur dann, wenn er aufhört, sich ganz und gar auf Umverteilung zu konzentrieren, sich in die Wirtschaft einzumischen und die Steuergelder vor allem für die Umsetzung ideologischer Programme zu verschwenden. Es ist wie bei einem Unternehmen: Wer sich auf vielerlei Nebenschauplätzen verzettelt und aufreibt, statt sich auf seine Kernaufgaben zu fokussieren, der scheitert am Ende.

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