In der aktuellen Talkshow
„Hart aber Fair“ griff Frank Plasberg ein für den Wirtschaftsstandort
Deutschland immer bedrohlicher werdendes Szenario auf dem Arbeitsmarkt
auf: „Die neue Arbeiter-Losigkeit: Warum gehen Deutschland die Fachkräfte aus?“
Ob Pflegekraft, Kellnerin oder Handwerker – in Deutschland fehlten
überall Fachkräfte. Die Unis seien voll, doch der Handwerkermarkt sei
trotz oft guter Bezahlung leer. Was kann man da tun? Sind Fachkräfte aus
dem Ausland die Lösung, womöglich die Menschen aus der Ukraine eine
Hilfe? Darüber diskutierten die Gäste mehr oder weniger diffus an diesem
Abend.
Schauen wir uns die für diese Entwicklung ursächlichen Fakten einmal
näher an. Fakt ist, dass die Hochschulen seit etwa einem Jahrzehnt von
immer mehr Studierwilligen geflutet werden. Fast alle Universitäten
haben binnen kürzester Zeit ihre Studentenzahlen um mehr als 50% erhöhen
müssen, wie beispielsweise die Goethe-Universität Frankfurt von noch
knapp unter 30.000 Studenten zu Beginn des letzten Jahrzehnts bis hin zu
rund 47.000 nur wenige Jahre später. Die schon in den 90er-Jahren
befürchteten Massenuniversitäten mit deutlich verschlechterten
Lernbedingen sind heute Realität. Was aber ist der Grund, und was sind
die Folgen dieser Entwicklung?
Spätestens seit der Pisa-Studie
2000 wurde insbesondere Deutschland kontinuierlich auf die Anklagebank
des Pisa-Chefs der OECD in Paris, Andreas Schleicher, gesetzt. Im
internationalen Vergleich sei die Abiturientenquote viel zu gering. Der
Wirtschaftsstandort Deutschland sei in Gefahr, wenn nicht entsprechend
gegengesteuert werde. Bildungsökonomen rechneten gleich vor, wie viele
Prozente an zukünftigen Bruttosozialprodukten jährlich verloren gingen,
wenn hier nicht sofort gegengesteuert würde.
Die Abiturientenquote stieg in zwei Jahrzehnten von 20 auf bis zu 55 Prozent
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) begab sich
fatalerweise frühzeitig in die Gefangenschaft der empirischen
Bildungsforschung, die ab der Jahrtausendwende wie ein Phoenix aus der
Asche emporstieg. Frühzeitige Kritik vor allem aus den
Erziehungswissenschaften an der bildungsökonomischen Entwicklung wurden
als unerwünschtes Störfeuer abgetan, ihre Einsprüche schlichtweg
missachtet. Die meisten Eltern waren allerdings durchaus erfreut,
bedeutete dies doch das relativ sichere Abitur für ihre Zöglinge und die
Aussicht auf deren Akademikerstatus.
Fakt ist weiterhin, dass in den 90er-Jahren die Abiturientenquote in
den einzelnen Bundesländern noch zwischen knapp 20% und knapp unter 30%
lag, je nach Bundesland. Schon damals wurde von Kritikern der
Niveauverlust im Abitur
gegenüber früheren Jahren kritisiert. Gut 20 Jahre später hat sich
geradezu ein Wunder vollzogen: Bereits 2015 betrug die Abiturientenquote
zwischen 40% und 55% je nach Bundesland, bei immer besser werdenden
Durchschnittsnoten und einer exponentiellen Zunahme an Einser-Abituren.
Tendenz fortschreitend. Gleichzeitig begrüßten nicht nur die
Kultusministerien der Länder die inflationäre Vergabe des Abiturs.
Bildungs- und Gewerkschaftsverbänden und auch so manchem Reformpädagogen
kam diese politische Stoßrichtung gerade recht, war doch schon immer
die als elitär betrachtete geringe Abiturientenquote ein Dorn in deren
linkem Auge.
Wie aber ist es möglich, die Abiturientenquote binnen kürzester Zeit
fast zu verdoppeln? Sind wir also in Deutschland doppelt so schlau wie
noch vor 20 Jahren? Wohl kaum. Die Antwort auf diese Frage liegt auf der
Hand: Man hat einfach insbesondere die fachlichen Anforderungen selbst
an den Gymnasien auf politischen Druck hin teils massiv abgesenkt.
Zahlreiche Vergleiche der Zentralabituraufgaben der einzelnen
Bundesländer im Laufe der Jahre konnten dies zweifelsfrei nachweisen.
Mathematische Leistungen, die in Baden-Württemberg noch in den
70er-Jahren jeder Realschüler in seiner Abschlussprüfung zu bearbeiten
hatte, fehlen heute in diesem Schwierigkeitsgrad weitgehend, selbst in
den Leistungskursen. Jährliche Rekorde bei den Durchschnittsnoten werden
selbst in der Presse meist nur noch mit ironischen Kommentaren
versehen.
Universitäten müssen Nachhilfekurse für nicht studierfähige Bewerber anbieten
Als Folge dieser Entwicklung strömen immer mehr nicht studierfähige
Abiturienten an die Hochschulen. Auch dem BMBF in Berlin ist diese
Entwicklung durchaus bekannt. Um nun die Durchfall- und Abbrecherquoten
nicht ins Uferlose ansteigen zu lassen, wurden die Hochschulen
angehalten, eine Art Nachhilfekurse für nicht studierfähige
Studierwillige vor Aufnahme des Studiums anzubieten, in denen thematisch
fachliche Grundlagen in den Fächern zu lehren sind, deren Vermittlung
vormals die genuine Aufgabe der abiturvergebenden Schulformen war. Dass
diese vom Steuerzahler durch das BMBF finanzierten Kurse in der
Öffentlichkeit nicht so heißen dürfen, liegt auf der Hand. „Ein starker
Start ins Studium“ beispielsweise klingt doch sehr viel positiver, und
nur für derartige Wortkreationen gibt’s dann Geld. Allein an der
Goethe-Universität Frankfurt schlägt dies mit einem zusätzlichen Budget
von 42 Millionen Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren zu Buche.
Weiterhin wurden die klammen Hochschulen mit weiterem Geld zwecks
Senkung der Misserfolgsquoten geködert: für jeden in der vorgesehenen
Studienzeit zum Abschluss gebrachten Studenten gibt es bereits seit 2015
in fast allen Bundesländern Prämien von rund 4000 € und mehr (etwa in
NRW).
Gleichzeitig wurde das duale berufsbildende System vor allem dadurch
weiter ausgehöhlt, indem in einem vorher nicht gekannten
Akademisierungswahn berufliche Ausbildungsgänge gleich massenhaft
akademisiert wurden. Bereits 2018 boten 78 Universitäten, Hochschulen
und Akademien 149 verschiedene Studiengänge allein in der Pflege an,
davon 105 mit einem Bachelor- und 44 mit einem Masterabschluss. Laut „Studycheck“
gibt es derzeit 20.185 Studiengänge an 585 Hochschulen in Deutschland.
Blumige Beschreibungen klingen eher wie Realsatire: Dentalhygiene und
Präventionsmanagement, Service-Center-Management, Cruise-Management,
Golf- Management, Accessoire Design, Coffee-Management, Citizenship,
Civic Engagement oder Culinary Arts und Food Management. Für derartige
Studiengänge kennt man im anglo-amerikanischen Raum einen zutreffenden
Namen: „Micky-Maus-Studiengänge“, die schon allein wegen ihrer geringen
Nachhaltigkeit letztlich ins Nichts führen. Die Absolvierenden sitzen in
der oftmals zitierten „Bachelor-Falle“. Über- und Fehlqualifikationen
sind die Folge.
Für das berufsausbildende System bleibt dann nur noch eine
Restpopulation an Bewerbern übrig, die aufgrund der Absenkung der
Ansprüche teilweise nicht mal über die grundlegenden Kompetenzen des
Lesens, des Schreibens oder des basalen Rechnens verfügen. Das Ergebnis
liegt auf der Hand: ein eklatanter Fachkräfte- und Handwerkermangel.
Je höher die Akademikerquote, umso höher die Jugendarbeitslosigkeit
Das Beispiel der Schweiz widerlegt zudem die Aussagen der
Bildungsökonomen für eine derartige Entwicklung. Man ist dort nicht auf
die Propaganda der OECD hereingefallen und hat weiterhin eine
Abiturientenquote von rund 20%. Entsprechend der OECD müssten dort die
Lichter längst ausgegangen sein. Das Gegenteil ist der Fall. Mit ihrer
ausgeklügelten und stark geförderten beruflichen Ausbildung im dualen
System hat die Schweiz die niedrigste Arbeitslosen- und
Jugendarbeitslosigkeitsquote und eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen.
Ganz im Gegensatz dazu haben Länder ohne duales System zwar deutlich
höhere Akademikerquoten, wie etwa Großbritannien oder die
südeuropäischen Länder, aber auch eine deutlich höhere
Jugendarbeitslosigkeit. Nicht nur in südeuropäischen Ländern, auch in
China und Australien ist längst von einem akademischen Prekariat die
Rede.
Fakt ist auch, dass sich die Schere zwischen den Einkommen von
Akademikern und Handwerkern und Fachkräften zusehends schließt. Das
liegt schon allein an der Nachfrage und dem Angebot, dass auf Jahrzehnte
hin knapp bleiben dürfte. In der Sendung „Hart aber Fair“ wurde vor der
„Londonisierung“ gewarnt. Mittlerweile sind dort Headhunter vielfach
unterwegs, um Handwerker ausfindig zu machen. Diese können aufgrund der
enormen Nachfrage finanziell verlangen, was sie wollen. Teilweise finden
Bietverfahren statt. Jeder, der im Ahrtal oder der Eifel vom Hochwasser
heimgesucht wurde, weiß, dass der Wiederaufbau keine Frage des Geldes,
sondern der nicht vorhandenen Handwerker und Fachkräfte im Baubereich
ist. Es wird noch viele Jahre dauern, bis alle Schäden auch an der
Infrastruktur behoben sein werden. Ohne die teilweise aus dem Osten
stammenden und dort angemeldeten Handwerkerkolonnen geht derzeit in
diesen Regionen gar nichts. Auch der politisch binnen kürzester Zeit
eingeforderte Ausbau der erneuerbaren Energien, der Hausdämmung, der
Solardächer der Wärmepumpen u.a. wird weniger am Geld als an den nicht
vorhandenen Kapazitäten im Handwerker- und Fachkräftebereich scheitern.
Zu glauben, dass jetzt in großem Maße Hilfe aus der Ukraine kommt,
ist wenig empathisch. Die Menschen aus der Ukraine haben andere Sorgen,
als Lückenbüßer für eine verfehlte Bildungspolitik in Deutschland zu
sein. Da müssen wir uns schon an die eigenen Nase fassen. Außerdem hat
uns 2015 gezeigt, dass diese Lücke durch die mehr als 800.000 syrischen
Flüchtlinge von damals, die ja der Bevölkerung als bestens ausgebildet
präsentiert wurden, nicht geschlossen werden konnte (laut Zeit vom 23. September 2021 bedürfen
immer noch 67% der staatlichen Unterstützung). Auch hier ist
möglicherweise ein Déjà-vu zu erwarten. Denn auch zwischen einem
Bachelor oder Master einer Eliteuni aus den USA, Großbritannien,
Ecuador, Syrien, der Ukraine, Marokko oder auch aus Deutschland liegen
Welten im Anforderungsniveau. Dies ist einer der wesentlichen Gründe für
die unterschiedliche Prosperität der entsprechenden Volkswirtschaften.
Dies scheint sich bis in die obersten Kreise des BMBF, der
Kultusministerien der Länder und der Politik generell noch nicht
herumgesprochen zu haben.
Die digitale Transformation des Handwerks darf in den Schulen nicht zu kurz kommen
Was ist zu tun? Man wird diese jahrzehntelange Fehlentwicklung nicht
in wenigen Jahren in eine vernünftige Richtung leiten können. Eine
sofortige 180-Grad-Drehung der Bildungspolitik durch die entsprechenden
Institutionen des Bundes und der Länder ist gefordert, die allerdings
jahrelang der Bevölkerung ins Ohr geflüstert haben, man könne nur als
Akademiker ein zufriedenes und finanziell abgesichertes Dasein fristen.
Zusammen mit der deutschen Wirtschaft, den Handwerker- und
Fachkräfteverbänden muss sofort ein Bewerbungsprogramm in den Schulen
und der Öffentlichkeit gestartet werden, dass dem dualen
berufsausbildenden System eindeutig den Vorrang einräumt. Auch eine
Umsteuerung in der finanziellen Zuwendung ist oberstes Gebot. Anstatt im
Bildungsbereich weiterhin meist nutzlose Studien – dazu gehören auch
die Pisa-Studien und alle ihre Abkömmlinge, mit denen die Schulen
heimgesucht werden – mit zweifachen Millionenbeträgen pro Jahr
auszustatten, ist dieses Geld in der Förderung der dualen Ausbildung in
allen notwendigen Schritten sehr viel besser angelegt. Eine
Thematisierung in den Schulen ist Voraussetzung dafür, dass die Schüler
hier die verschiedensten Möglichkeiten der dualen Ausbildung vorgestellt
bekommen. Gerade auch die digitale Transformation des Handwerks hin zu
einer zunehmend digitalen Arbeitswelt darf in den Schulen nicht zu kurz
kommen.
Dann werden auch die Hochschulen entlastet und können sich mit
deutlich geringeren Studentenzahlen und wesentlich verbesserten
Betreuungsverhältnissen der Forschung und Lehre wieder erfolgreicher
widmen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Seit
Jahren schafft es keine deutsche Universität im Shanghai-Ranking
unter die ersten 50! (Aktuell erreicht die die LMU Platz 48 (!), die
TUM Platz 54, Heidelberg 57 und Bonn den Platz 87.) Die ETH-Zürich – von
vielen deutschen Bildungsexperten lange belächelt – zeigt, wie es geht,
nachhaltig einen der Plätze unter den ersten 20 zu erreichen. Die
ersten zehn Plätze sind stets den bekannten acht amerikanischen
Elitehochschulen und den beiden bekannten britischen Hochschulen Oxford
und Cambridge vorbehalten.
Mit „Hart aber Fair“ hat dieser Beitrag begonnen und soll damit auch
enden. Frank Plasberg stellte in seiner Sendung leider erst zum Schluss
einen Videoclip vor, in dem der Präsident des Zentralverbandes des
deutschen Handwerks, Joseph Wild, vor 50 Jahren zu Wort kam: „Wir haben
einen kolossalen Mangel an Facharbeitern, und man soll doch mit dem
Irrtum aufhören, dass man aus dem letzten Dorftrottel einen
Hochschulprofessor machen kann.“
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