Wo
 er stark sein sollte, ist er schwach, und wo er schwach sein sollte, 
ist er stark: Über Staatsversagen im Zeichen der Corona-Pandemie (NZZ)
Jahrelang
 haben Politiker über Unisex-Toiletten oder politisch korrekte Sprache 
diskutiert. Damit dürfte es nun erst einmal vorbei sein. Und es stellt 
sich ernsthaft die Frage: Was gehört zu den Kernkompetenzen eines 
funktionierenden Staates (und was nicht)?
Nachdem
 Politiker in fast allen Ländern die vom Coronavirus ausgehende Gefahr 
zunächst in erschreckendem Ausmaß ignoriert und unterschätzt haben, 
wissen jetzt alle, dass sich früher oder später ein Grossteil der 
Menschen anstecken – und dass es weitere Tausende Tote geben wird. 
Eigenartigerweise gesteht jedoch kaum ein Politiker öffentlich ein, dass
 die Krise fast jeden Einzelnen auch wirtschaftlich massiv treffen und 
zu Einkommens- und Vermögensverlusten führen wird. 
Stattdessen suggerieren Regierungen, sie würden dafür sorgen, dass kein 
Arbeitnehmer arbeitslos werde und kein gesundes Unternehmen pleitegehen 
werde. Schön wär’s.
        
        Die Illusion der Nachgeschichtlichkeit
      
Früher
 wussten die Menschen, dass sie für Krisen und Katastrophen vorsorgen 
mussten, frei nach Schillers Sentenz «Der kluge Mann baut vor». Berichte
 über Zeiten der Not, ausgelöst durch Missernten, Naturkatastrophen oder
 eben Kriege, wurden von einer Generation an die nächste weitergegeben. 
Obwohl die Menschen viel weniger Geld hatten hat als heute, 
antizipierten sie in grosser Nüchternheit künftige Durststrecken. Sie 
verstanden den Lauf der Dinge eher als Idee eines Auf und Ab denn als 
Perpetuierung des Status quo. Die Idee eines Endes der Geschichte, in 
der die wesentlichen Kämpfe ausgefochten und die grössten Gefahren 
gebannt sind, war ihnen vollkommen fremd.
Dies
 war ein Realismus, der bis vor kurzem als Pessimismus galt. Ich 
erinnere mich noch an die achtziger Jahre, als meine damalige Frau und 
ich über meinen Schwiegervater schmunzelten, weil er im Keller grosse 
Vorräte an Konserven und Lebensmitteln für Zeiten der Not angelegt 
hatte. «Ihr habt keinen Krieg erlebt», entgegnete er uns.
Der
 Wohlfahrtsstaat hat den Menschen die Illusion vermittelt, sie selbst 
seien nicht mehr verantwortlich, für Zeiten der Krise und der Not oder 
für das Alter Vorsorge zu treffen. Der Staat wird es schon richten, so 
lautet das Versprechen der Politik und die tiefe Überzeugung der meisten
 Menschen.
Ob
 Arme, Reiche oder Angehörige der Mittelschicht: Alle erwarten, dass der
 Staat es in jeder Situation richten wird. Börsianer rechnen nicht erst 
seit der letzten Finanzkrise damit, dass die Zentralbanken durch 
Nullzinspolitik und unbegrenzte Anleihekäufe dafür Sorge tragen, dass 
die Aktienkurse nicht ins Bodenlose fallen. Die Zentralbanken schießen 
mit immer grösseren Kanonen, aber die Wirkung wird immer kleiner – wie 
bei einem Drogenabhängigen. Banken erwarten sowieso, dass sie vom Staat 
gerettet werden, auch das kleinste Bankhaus gilt inzwischen als 
systemrelevant. Grosse Unternehmen gehen selbstverständlich davon aus, 
dass der Staat sie stützt, weil es sonst viele Arbeitslose geben wird. 
Und kleine Selbständige rufen verständlicherweise: «Wo bleibe ich?»
        
        Die Abhängigkeit vom Staat wächst
      
Wenn
 jemand die Frage stellt, ob es nicht unverantwortlich sei, wenn ein 
Selbständiger in sonnigen Zeiten nicht einmal für zwei oder drei Monate 
Rücklagen gebildet habe, dann ist die Reaktion so ähnlich, als ob jemand
 auf einer Beerdigungsfeier laut einen Witz erzählt hätte. Es herrscht 
eisernes Schweigen.
Dabei
 geht es uns allen heute wesentlich besser als vor 50 oder gar 100 
Jahren. Nur dass die Menschen damals noch eher ein Bewusstsein von 
Eigenverantwortung hatten: In schwierigen Zeiten rief man nicht zuerst 
nach dem Staat, sondern Familien halfen sich, und viele hatten etwas 
gespart. Sparen hat der Staat jedoch seit vielen Jahren schwergemacht, 
da die Zinsen durch die Nullzinspolitik der Zentralbanken faktisch 
abgeschafft wurden. Vielen Menschen wird durch eine längst absurde 
Steuerlast so viel genommen, dass netto wenig vom Brutto übrig bleibt, 
und was dann noch erübrigt wird, wird nicht verzinst, wenn man es 
anlegt. So wurde die Abhängigkeit vom Staat immer grösser.
Wie
 ein Schlaglicht zeigt die Corona-Krise, was schiefläuft in unserer 
Gesellschaft: Der Staat ist dort schwach, wo er stark sein sollte. Zu 
diesen Kernaufgaben gehören die Gesundheitsvorsorge und funktionierende 
Krisenprogramme – beispielsweise für den Fall einer Pandemie.
Dass
 es früher oder später zu einer Pandemie kommen würde, konnte jeder 
Politiker wissen, aber sie kümmerten sich lieber um andere Themen. In 
Deutschland beispielsweise wurde mit Inbrunst über das dritte 
Geschlecht, Political Correctness und ähnlich wichtige Fragen 
diskutiert, aber heute wundert sich jeder, warum nicht einmal 
ausreichend Atemschutzmasken vorhanden sind.
Zugleich
 ist der Staat dort stark, wo er schwach sein sollte, also vor allem im 
Bereich der Wirtschaft, wo immer mehr reguliert und sozialisiert wurde. 
Und hier zeigt sich nun: Wo der Staat viel nimmt, muss er immer noch 
mehr geben (bis er nicht mehr kann).
        
        Die Lektion aus der Krise
      
Den
 bekennenden Etatisten kommt dies sehr gelegen. «Wir wissen», so 
erklärte jüngst die Sprecherin der grünen «Fridays for Future»-Bewegung 
in Deutschland, Luisa Neubauer, «dass politischer Wille, wenn er denn da
 ist, Berge versetzen kann. Das erfahren wir in der Corona-Krise gerade 
hautnah.» Und weiter – es lohnt sich, das Quote in extenso zu zitieren: 
«Was dieser Tage politisch abgeht, entblösst am Ende des Tages auch die 
Verweigerungshaltung der Bundesregierung, die Klimawissenschaft ernst zu
 nehmen und das Pariser Abkommen einzuhalten. Was im besten Fall 
passieren kann, ist, dass wir aus der Krisenerfahrung eine 
Krisenbewältigungserfahrung machen.»
Selbst
 die massive Ausserkraftsetzung von Freiheitsrechten wird als 
Mustervorlage für die ökologische Umgestaltung der Gesellschaft 
gefeiert. Das Vollkasko-Versprechen des überschuldeten Wohlfahrtsstaates
 nährt vermessene Machbarkeitsillusionen, die schon bald von der 
Realität eingeholt werden.
Im
 besten Fall könnten die Menschen aus der Krise lernen, dass der Staat 
sich wieder auf seine Kernaufgaben konzentrieren und diese aber endlich 
richtig ausführen soll. Dazu gehört der Schutz vor Pandemien, denn diese
 wird nicht die letzte bleiben.
Diese
 Kraft hat der Staat aber nur dann, wenn er aufhört, sich ganz und gar 
auf Umverteilung zu konzentrieren, sich in die Wirtschaft einzumischen 
und die Steuergelder vor allem für die Umsetzung ideologischer Programme
 zu verschwenden. Es ist wie bei einem Unternehmen: Wer sich auf 
vielerlei Nebenschauplätzen verzettelt und aufreibt, statt sich auf 
seine Kernaufgaben zu fokussieren, der scheitert am Ende.
 
