Mittwoch, 5. September 2018

Merkel und Seibert lassen "Hetzjagd"-Vorwurf fallen

Nach Publico-Anfrage: Merkel und Seibert lassen „Hetzjagd“-Vorwurf fallen


In einer Antwort auf eine Anfrage von Publico lässt Merkels Sprecher Steffen Seibert den Vorwurf fallen, es habe am 26. August in Chemnitz „Hetzjagden“ gegeben. Diese Antwort – per Mail zugeschickt am 4. September – , so teilte eine Mitarbeiterin des Bundespresseamtes vorab telefonisch mit, beziehe sich auch auf die Äußerungen von Kanzlerin Merkel, die wortgleich von „Hetzjagden“ gesprochen hatte, zu der ihr „Videos“ vorlägen.

Seibert will seine Darstellung, es habe in Chemnitz „Hetzjagden“ gegeben, seiner Antwort zufolge auch nicht als Sachdarstellung verstanden wissen, sondern als nur als „politische Einordnung“.
Am 27. August hatte Regierungssprecher Steffen Seibert sich über die Ereignisse in  Chemnitz  am vorhergehenden Abend geäußert – über den Abend, an dem nach Polizeiangaben etwa 800 Menschen zu dem Spontankundgebung auf die Straße gegangen waren, um nach der Tötung eines jungen Mannes durch zwei abgelehnte Asylbewerber gegen  die Migrationspolitik der Regierung zu protestieren. In der Menge gab es auch nach Polizeischätzungen ungefähr 50 gewaltbereite Fußballhooligans und Rechtsextreme, die mit Hitlergrüßen und rechtsextremen Slogans auf sich aufmerksam machten. Aus der Menge heraus wurden drei Personen mit ausländischem Aussehen beleidigt, nach bisherigen Erkenntnisstand einer geschlagen. Auf einem kurzen Video, produziert von einer „Antifa Zeckenbiss“, sieht man einen einzelnen Mann, der drohend auf einen anderen Mann zuläuft und „was wollt ihr, ihr Kanacken?“ schreit.
Seibert hatte vor der Bundespressekonferenz allerdings nicht diese Fakten dargestellt, sondern noch wesentlich mehr behauptet:
„Was gestern in Chemnitz zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“
Bundeskanzlerin Merkel äußerte sich fast wortgleich:
„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“
Beide stellten ihre Behauptungen von „Hetzjagden“ ausdrücklich in einen Zusammenhang mit Videos, die ihnen vorlägen.
Da entsprechende Videos bis dahin nicht aufgetaucht waren, fragte Publico am 31. August telefonisch bei dem Sprecher der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft Wolfgang Klein nach. Klein antwortete:
Ebenfalls am 31. August stellte Publico eine Presseanfrage an Steffen Seibert und Angela Merkel und wollte wissen, auf welche Videos sie sich in ihren Aussagen beziehen.
Am 4. September antwortete das Bundespresseamt:
„Sehr geehrter Herr Wendt,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Regierungssprecher Steffen Seibert hat sich am Montag, 27. August 2018, in der Regierungspressekonferenz zu den Ereignissen in Chemnitz geäußert und die Vorfälle des Vortags politisch eingeordnet. 
Zu diesem Zeitpunkt existierten in den sozialen Medien bereits vielfach verbreitete Schilderungen der Geschehnisse, darunter auch eine Videoaufnahme, die zeigt, wie Demonstranten in aufgeladener Stimmung Migranten mit Sätzen wie „Haut ab!“, „Was wollt ihr, ihr Kanaken“ und „Ihr seid nicht willkommen“ nachsetzen und diese in die Flucht jagen.
Auch die „Freie Presse Chemnitz“ berichtete darüber, dass es aus der Demonstration heraus Angriffe auf „Migranten, Linke und Polizisten“ gegeben habe. 
Die Einordnung der Ereignisse von Chemnitz war schließlich am Montag, 3. September 2018, ein weiteres Mal Thema in der Regierungspressekonferenz. Regierungssprecher Steffen Seibert hat auf die Frage eines Journalisten wie folgt geantwortet:
„Ich werde hier keine semantische Debatte über ein Wort führen. Wenn die Generalstaatsanwaltschaft das sagt, dann nehme ich das natürlich zur Kenntnis. Es bleibt aber dabei, dass Filmaufnahmen zeigen, wie Menschen ausländischer Herkunft nachgesetzt wurde und wie sie bedroht wurden. Es bleibt dabei, dass Polizisten und Journalisten bedroht, zum Teil auch angegriffen wurden. Es bleibt dabei, dass es Äußerungen gab, die bedrohlich waren, nah am Aufruf zur Selbstjustiz. Also da gibt es aus meiner Sicht auch nichts kleinzureden.“
Quelle: „ein Regierungssprecher“ (ohne Namensnennung)


Damit stellt Seibert klar, dass er und Merkel sich auf Material gestützt hatten, das „in den sozialen Medien“, also im Internet kursierte. Publico hatte auch die Frage gestellt, ob Seibert vor seinem Gang zur Bundespressekonferenz am 27. August Kontakt mit der Polizei Chemnitz oder einer zuständigen Staatsanwaltschaft aufgenommen hatte, um sich Informationen geben zu lassen. Auf diese Frage geht das Bundespresseamt nicht ein. Implizit heißt das also: nein.
Das Presseamt nennt zwar – anders, als Publico angefragt – nicht direkt das Video, auf das sich Seibert und Merkel bezogen. Aber anhand der Tonspur, die in der Antwort wiedergegeben wird –„Haut ab!“, „Was wollt ihr, ihr Kanaken“ und „Ihr seid nicht willkommen“ – ist es identifizierbar als das 19 Sekunden lange Video der „Antifa Zeckenbiss“, das einen einzelnen Mann zeigt, der auf einen anderen drohend zuläuft. Andere Video-Quellen nennt die Antwort an Publico nicht. Dass das Zurennen einer Person auf eine andere und beleidigende Rufe keine Hetzjagd darstellt, schon gar keine im Plural: dazu ist tatsächlich keine semantische oder sonstige Analyse nötig.
Etwas merkwürdig mutet an, dass das Bundespresseamt in der Antwort auch mitteilt, die Chemnitz „Freie Presse“ habe berichtet, dass es am vorvergangenen Sonntag in Chemnitz zu einzelnen Übergriffen aus der Menge heraus gekommen sei. Genau das hatte Publico in seinem Text auch geschrieben. Hitlergrüße und Übergriffe sind ohne Zweifel strafbar und empörend, Beleidigungen auch.
Einzelne Übergriffe aus einer Menge von Demonstranten heraus, Angriffe auf Polizisten – das geschieht auf sehr vielen Demonstrationen, ohne dass sich Bundeskanzlerin und ihr Sprecher dazu äußern würden. Die Angriffe auf Polizisten im Hambacher Forst mit Steinen und Molotowcocktails an dem gleichen vorvergangenen Sonntag durch linksradikale Täter waren übrigens sehr viel härter ausgefallen als in Chemnitz, ein Beamter musste ins Krankenhaus. Diese Angriffe waren von Seibert überhaupt nicht erwähnt worden.
Nach Publico-Informationen hatten sich nach ihrem Einsatz in Chemnitz am 26. August zwei Polizeibeamte als leicht verletzt gemeldet – einer von ihnen, weil er mit dem Knöchel umgeknickt war.
Die BILD vom 4. September erwähnt die Anfrage von Publico bei der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft in einem Beitrag mit der Überschrift „gab es wirklich keine Hetzjagd?“.
Darin schreibt BILD:
„Seltsam: Ausgerechnet der Staatsanwalt lehnt sich in so einer sensiblen Frage, die von der ganzen Welt beobachtet wird, weit aus dem Fenster – obwohl er selbst zugibt, noch nicht alle Videos gesichtete zu haben ‚nach allem uns vorliegenden Material – was bis zur vergangenen Woche von den Kollegen gesichtet worden ist – hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben’, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein zunächst zu ‚Publico’.“ Was BILD daran „seltsam“ findet, erschließt sich nicht recht. Klein hatte den vorläufigen Ermittlungsstand dargestellt. An ihm hat sich bis jetzt nichts geändert. Seine Behörde ist zuständig. Dagegen sind weder das Bundeskanzleramt noch das Bundespresseamt Ermittlungsbehörden. Trotzdem hielten sie es für richtig, die hoch dramatische Vokabel „Hetzjagden“ – gestützt auf das „Zeckenbiss“-Video – als höchstamtliche Tatsache auszugeben. Um nur auf Nachfrage die vermeintlich faktengestützte Darstellung zur „politischen Einordnung“ – um es mit Seiberts Worten zu sagen – „kleinzureden“.
Bleibt noch eine Frage: Wie kommt es, dass nach einem Ereignis wie in Chemnitz, über das weltweit berichtet wurde, offenbar nur Publico bei der zuständigen Ermittlungsbehörde detailliert nachfragte?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen