Donnerstag, 19. Oktober 2017

Die Debatte - "Das Spanien von heute ist die Schande Europas"

Seit drei Jahrhunderten unterdrückt Kastilien die Katalanen. Was als Bündnis auf Augenhöhe begann, endete in Zentralismus und kultureller Bevormundung: Plädoyer für eine Scheidung – auch wenn sie vorläufig verschoben wurde
Von Albert Sanchez Pinol im Focus 42/2017
Können Sie sich das vorstellen: eine Menschenmenge, die Schlange steht, nur um ihr Grundrecht auf freies Wählen auszuüben? Und stellen Sie sich weiter einen Staat vor, der diese Leute bedroht und behauptet: „Wählen ist illegal.“ Und der schickt dann angesichts der demokratischen Sturheit der Bevölkerung Abertausende Polizisten los, um die Wahlurnen zu beschlagnahmen. Stellen Sie sich schließlich die Bürger vor, wie sie friedlich die Wahllokale verteidigen und zur Gewaltlosigkeit aufrufen, bis sie von Spezialeinheiten angegriffen werden, die die Urnen mitnehmen und über 800 Zivilisten verletzen. Nein, Sie brauchen sich das gar nicht alles vorzustellen: So unglaublich es erscheinen mag, all das ist bereits geschehen, am 1. Oktober 2017, im Herzen Europas. In Katalonien. Bis ins 15. Jahrhundert war Katalonien ein unabhängiges Königreich.
Dann aber kam es den katalanischen und kastilischen Dynastien in den Sinn, sich zusammenzuschließen, und zwar per königlicher Hochzeit.
Aber wie bei so vielen Ehen war eigentlich schon zu Beginn absehbar, dass das ganze in einem Desaster enden würde. Zwei unterschiedlichere Eheleute hätten sich kaum finden können: das maritime Katalonien mit seiner Küste und das selbstvergessene Kastilien im Landesinneren, das vom Bürgertum regierte Katalonien und das von Aristokraten beherrschte Kastilien, das militaristische Kastilien und das merkantilistische Katalonien. Die Königshäuser verheirateten sich, aber das Einzige, was sie verband, war die Krone. Sie blieben entzweite Reiche. Die Eroberung der Amerikas ruinierte Kastilien, und von da an wurde diskutiert, was diese „Spanien“ genannte Ehe eigentlich bedeute. Für die Katalanen war Spanien ein Bündnis unter Gleichen, für Kastilien ein zentralistisches Projekt. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde der Ton rauer. Der Konflikt gipfelte schließlich im sogenannten Erbfolgekrieg (1701–1714): Kastilien ergriff beim Gerangel um die spanische Krone Partei für den französischen Freier, Katalonien für einen Österreicher. Der Krieg war schrecklich. Zwei grundverschiedene Mentalitäten prallten aufeinander: Katalonien propagierte eine Art föderales Spanien, Kastilien hatte vor, in Madrid ein Zentralregime zu errichten – und erreicht sein Ziel. Am 11. September 1714, nach einer schrecklichen Belagerung von mehr als einem Jahr, eroberten die franko-kastilischen Truppen mit Blut und Feuer Barcelona. Alle Institutionen und Gesetze wurden abgeschafft, aller Widerstand niedergeschlagen. Und ein neuer König aus dem Hause der Bourbonen, ein echter Anti-Katalane, bestieg den Thron: der verhasste Philipp V. Doch so unglaublich es klingen mag, auch 300 Jahre nach diesem schicksalhaften 11. September hat es Spanien nicht geschafft, die katalanische Identität zu zerstören. Im Gegenteil, im 20. Jahrhundert, während der franquistischen Diktatur (1939–1975), durchlitten die Katalanen die längste Nacht ihres Lebens. Ihre Sprache wurde verfolgt, jeder kulturelle Piep konnte einen ins Gefängnis bringen.

Aber trotz all dieser Hindernisse und trotz aller Diktaturen hat die katalanische Gesellschaft nie ihre Kultur, ihre Institutionen und ihre Selbstverwaltung aufgegeben. Von der neuen Verfassung 1978 und dem darin verankerten Autonomiestatus erhoffte sich Katalonien, dass Spanien es nun endlich als eine politische Größe mit all seinen Besonderheiten respektieren würde. Aber über der Demokratisierung hingen von Beginn an dunkle Wolken – schließlich wachte über den verfassungsgebenden Prozess das Militär, in dem es vor Generälen aus der Franco-Zeit nur so wimmelt.

Das große Problem des modernen Spanien ist, dass es im Grunde nie so recht an die Autonomie Kataloniens hat glauben wollen und dieser innerhalb des Staates immer Ablehnung entgegenschlug, ganz gleich, wer gerade regierte. Madrid war stets besessen, die katalanische Kultur zu verwässern. Noch heute gibt es Minister, die öffentlich bekräftigen, ihre Arbeit bestehe darin, „die katalanischen Kinder zu hispanisieren“(!). Systematisch wird die Lehre der katalanischen Sprache angegriffen, wohl wissend, dass die kollektive Identität Kataloniens nicht in Rasse oder Religion, Geografie oder Abstammung eines Einzelnen verankert ist, sondern in der Sprache. Oder es werden katalanische Gesetze blockiert, die die Ärmsten der Gesellschaft schützen sollen – und zwar mit dem Argument, dass diese Beschlüsse „die Gleichheit aller Spanier verletzten“(!). Das gesamte 21. Jahrhundert hindurch haben die spanischen Institutionen an der bereits dünnen katalanischen Selbstverwaltung gehobelt. Zum großen Bruch zwischen Spanien und Katalonien kam es dann 2010. In diesem Jahr kämpfte eine breite Allianz der politischen Kräfte in Katalonien für einen neuen Autonomiestatus. Dieses Vorhaben zielte keineswegs auf eine Abspaltung. Es war vielmehr der letzte Versuch, doch noch einen Konsens für ein gemeinsames Miteinander zwischen Spanien und Katalonien zu finden. Und wie antwortete Madrid? Mit einem entschiedenen, fast herrischen Nein.

Katalonien war zutiefst frustriert. Der Staat hatte klargestellt, dass er die katalanische Selbstbestimmung und Identität auch weiterhin ersticken würde. In Wahrheit war es also Madrid, das die Katalanen in die Scheidung trieb. Seit 2010 demonstrieren an jedem 11. September bis zu einer Million Menschen für die Unabhängigkeit. Eine Million Demonstranten, jedes Jahr!

Und das bei einer Bevölkerung von gerade mal sieben Millionen! Gibt es irgendwo auf der Welt eine Regierung, die in der aktiven Entfremdung jedes siebten Einwohners nicht ein politisches Problem sehen würde? Ja, die spanische. Für Madrid handelt es sich lediglich um ein gesetzliches Problem: Die Wortführer der Unabhängigkeitsbewegung werden vor Gericht gestellt, so, als ob das Verbot einer Idee Lösungen bringen könnte. Nicht ein politischer Vorschlag, nur Gesetze, Richter und Drohungen. Das gleicht einer Ehe, bei der die Frau die Scheidung will und ihr Mann einfach sagt: „Tut mir leid, Schätzchen, aber da Scheidungen illegal sind, gibt es nichts zu reden. Und wenn du weiter herumzickst, dann setzt es was.“ Diese Ehe ist im Eimer, ganz gleich, was das Gesetz sagt.

Am 1. Oktober 2017 hat der spanische Staat sein wahres Gesicht gezeigt. Jeder und jede hat die verheerenden Bilder aus Barcelona gesehen.

Die Zivilbevölkerung, wie sie die Wahllokale mit erhobenen Händen verteidigt. Nicht eine aggressive Bewegung, während die Polizei brutal auf die Wähler einschlägt und die Urnen in Müllsäcken abtransportiert. Zwei Tage später hielt König Felipe VI. die bedauerlichste Rede seiner Regentschaft: Anstatt in eine Vermittlerrolle zu schlüpfen, die ihm als Monarchen gut stünde, fehlte nicht viel, und er hätte die zur Abstimmung gegangenen Katalanen als Verbrecher bezeichnet. Er machte seinem Urgroßvater alle Ehre. Das Spanien von heute ist die Schande Europas.

Und Europa? Das könnte einfach über den Fall Katalonien hinwegschauen. Ja, es könnte die Bevölkerung dort einfach sich selbst überlassen. Doch diese vertraut in die Demokratie und in den Schutz eines freiheitlichen Europa. Wenn die Europäische Union also tatsächlich nicht handelt, dann würde sie ihre eigenen Grundwerte verraten und einen autoritären Staat stützen, der nichts mehr hasst als Wahlurnen und dem europäischen Projekt höchstwahrscheinlich seinen ersten großen Riss zugefügt hat.

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