Die Ungeimpften treiben derzeit die Pandemie an. Das hat Auswirkungen auf die Massnahmen zur Viruseindämmung.
Stephanie Lahrtz 01.12.2021, 05.30 Uhr
Nachrichten und Studiendaten über zunehmende Impfdurchbrüche und abnehmende Impfeffektivität lassen die Frage aufkommen, ob denn Impfen überhaupt noch einen positiven Einfluss auf den Verlauf der Pandemie hat. Unbestritten ist, dass die Impfung die allermeisten Personen über mehrere Monate hinweg vor einem schweren Covid-19-Verlauf schützt. Eine neue Studie von Berliner und Erfurter Forschern zeigt nun, in welchem Ausmass Ungeimpfte und Durchbruchinfektionen zu den steil ansteigenden Neuinfektionen beitragen, die Deutschland seit einigen Wochen vermeldet.
Forscher um Dirk Brockmann von der Humboldt-Universität in Berlin haben Berechnungen für den Zeitraum 11. Oktober bis 4. November durchgeführt. Die Daten liegt nun als noch nicht begutachtete Publikation vor. Die Autoren kommen dort zu einer eindeutigen Antwort: 67 bis 76 Prozent aller Neuinfektionen werden durch Ungeimpfte verursacht.
Erkenntnisse könnten auch für andere Länder gelten
Entgegen allen anderslautenden Behauptungen von Impfskeptikern und Corona-Leugnern wird also derzeit die Pandemie in Deutschland vor allem durch Ungeimpfte angetrieben. Auch für andere Länder, die eine ähnliche Dynamik des Infektionsgeschehens sowie vergleichbare Impfquoten wie Deutschland aufwiesen, dürften die Aussagen der vorgelegten Modellierung gelten, sind die Wissenschafter überzeugt.
Sie haben eine Vielzahl von Faktoren in ihre Berechnungen einbezogen. Dazu zählen die Effektivität des Impfstoffs, wie lange Geimpfte und Ungeimpfte das Coronavirus nach einer Infektion weitergeben oder wie viele Kontakte es in der Bevölkerung im Beobachtungszeitraum gab. Zudem wurden die Altersstruktur und die Impfquote beachtet.
Zwei Szenarien mit unterschiedlicher Impfeffektivität
Da es für den wichtigen Parameter Impfeffektivität derzeit nur Schätzungen gibt, haben die Wissenschafter zwei Szenarien entworfen. Das erste geht davon aus, dass die Impfungen im Beobachtungszeitraum zu 92 bis 72 Prozent vor einer Ansteckung schützten, je nach Altersgruppe. Das zweite berücksichtigt eine Impfeffektivität von nur noch 60 bis 50 Prozent. Vergleiche mit dem bisherigen Verlauf der Pandemie hätten gezeigt, dass das erste Szenario der Realität gut entspreche, schreiben die Autoren.
Somit ist davon auszugehen, dass derzeit gut 51 Prozent (im zweiten Szenario 38) der Ansteckungen zwischen Ungeimpften stattfinden. Zudem überträgt in rund einem weiteren Viertel aller Infektionen ein Ungeimpfter das Virus auf einen Geimpften. Aber nur in 15 bis 17 Prozent der Fälle ist es andersherum. Das Fazit der Forscher: In 91 (84) von 100 Infektionen ist ein Ungeimpfter beteiligt, meist geht die Infektion von diesem aus.
Bis zu Dreiviertel aller Infektionen gehen von Ungeimpften aus
Das bedeute, dass eine Minderheit der Gesellschaft, nämlich das gute Drittel der Ungeimpften, nicht nur einen grossen Anteil an den hohen Infektionszahlen habe, betonen die Forscher. Zudem verursachten vornehmlich die Ungeimpften die Krise des Gesundheitssystems mit voll ausgelasteten oder gar überlasteten Intensivstationen. Um die Spitäler wieder zu entlasten, muss die Virusübertragung zwischen Ungeimpften um 22 bis 25 Prozent reduziert werden, so die Modellrechnungen. Allein das würde die Reproduktionszahl unter den magischen Wert von 1 drücken. Ein R-Wert unter 1 bedeutet, dass sich das Virus nicht mehr exponentiell ausbreiten kann und somit die Pandemie unter Kontrolle ist. Wenn dies realisiert würde, müssten die Ungeimpften keine weiteren Einschränkungen hinnehmen, sagen die Wissenschafter. Ohnehin würden sich Massnahmen bei den Ungeimpften stärker auf den R-Wert auswirken als solche, die auch Geimpfte beträfen.Die Studie listet allerdings nicht im Detail auf, welche Massnahmen zur Virusübertragung nun ergriffen werden sollten. Die Autoren betonen jedoch, wie wichtig schnelle Booster-Impfungen zur Senkung des R-Werts seien. Dauerhaft unter 1 drücken könnte man den R-Wert, wenn 90 Prozent der Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren vollständig geimpft wären.
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