Die herrschende Klasse
In meinem letzten Beitrag
des alten Jahres habe ich den Begriff der "herrschenden Klasse"
benutzt. Das führte zu einigen Anmerkungen und Nachfragen bei den
Leserzuschriften. Ich möchte den Begriff kurz erläutern.
Um sich der herrschenden Klasse anzunähern, kann man
den Umweg über einen Karl Marx zugeschriebenen Satz nehmen (den er aber
so nie gesagt hat): „Die herrschende Meinung ist immer die Meinung der
Herrschenden." Der Satz wirft zumindest ein Licht auf die Bedeutung
einer unabhängigen Presse, die im Idealfall eben nicht die Meinung der
Herrschenden perpetuieren sollte. Gleichzeitig deutet der Satz an, dass
man auf eine unabhängige Presse nicht unbedingt hoffen sollte.
Definieren wir also die Vertreter der herrschenden
Meinung als die herrschende Klasse, dann gehört zwangsläufig die
Gegenseite dazu, nämlich die Klasse der Beherrschten. In der Theorie der
Demokratie ist die Vertreterin der beherrschten Klasse die Opposition.
Da sie nicht über die geeigneten Macht- und Meinungsmittel verfügt, ist
ihr schärfstes Schwert die Moral. Die beherrschte Klasse kann die
herrschende Klasse nur mit dem Instrument des moralischen Vorwurfs vor
sich hertreiben und in die gewünschte Richtung lenken. Deswegen ist die
vierte Säule der Demokratie, die freie Presse, so eminent wichtig.
Die Aufgabe der Presse ist es, der beherrschten Klasse
eine Stimme zu geben. Sie ist, wenn man es pathetisch formulieren will,
die Stimme der Moral. Ohne den moralischen Resonanzboden würde Presse
nur das Verlautbarungsorgan des Bestehenden sein können. Die Schere
zwischen der realen Beschaffenheit und der idealen Bestimmung ist der
journalistische Raum, aus dem die Herrschenden kritisiert werden und die
Beherrschten eine Stimme erhalten.
Die Grünen können sich als Partei der Hochmoral gerieren
In den westlichen Demokratien haben wir uns angewöhnt,
die hehre Moral links zu verorten und den schmutzigen Pragmatismus
rechts. Solange dieses Koordinatensystem galt, konnte die Presse ihrer
Aufgabe nur gerecht werden, indem sie sich als links begriff. Deswegen
wurden, wenn man auf Deutschland blickt, linke Regierungen, die bei
Bundestagswahlen die Mehrheit erringen konnten, sehr schnell pragmatisch
rechts und von der Presse gejagt. Ob Helmut Schmidt oder Gerhard
Schröder: die pragmatischen Linien ihrer Politik haben vor allem die
Linken auf die Barrikaden gebracht. Sie waren es, die ihre Moral
verraten fühlten.
Der Niedergang der Volkspartei SPD mit inzwischen
Wahlergebnissen um 20 Prozent ist das Ergebnis davon, dass man ihnen
ihre eigene Moral des "sozialen Ausgleichs" nicht mehr glaubt. Das
Mysterium, dem wir alle in Deutschland seit 2005 jedoch beiwohnen, ist
ein anderes: Jene Partei, die ebenso wie die SPD für den ersten Krieg
von deutschem Boden nach 1945 und wichtiger noch: die ebenso wie die SPD
für die Agenda 2010 verantwortlich zeichnet, ist unbeschadet aus dem
moralischen Gewitter der Presse hervorgegangen. Noch immer können sich
die Grünen als Partei der Hochmoral gerieren, und das obwohl es keine
andere Partei in Deutschland gibt, die mehr für soziale Arroganz und
elitäres Akademikertum steht als eben diese Grünen. Ihr faszinierendes
Erfolgsrezept war und ist es, sich gleichzeitig als oppositionelle Moral
wie auch als herrschende Partei zu etablieren.
Das System Merkel seit 2005 zeichnet sich durch die
Vereinnahmung scheinbar linker Positionen aus. Das ist aber nur die
Außenseite. In Wahrheit hat die CDU unter Angela Merkel das
Erfolgsrezept der Grünen kopiert: die moralische Aufgeladenheit einer
Oppositionspartei mit einem autoritären Herrschaftsapparat zu vermählen.
Die Mechanismen, dies zu erreichen, waren vielfältig, zwei Parameter
jedoch waren entscheidend: zum einen das zeitgeistige Vorurteil, eine
Frau an der Spitze des Landes wäre bereits per Geschlecht die
Repräsentantin einer höheren Moral; und zum anderen die Spaltung in
"Wir", die guten Demokraten, und "Sie", die bösen Rechten. Die
Überhöhung und Dramatisierung dieser Spaltung verwandelt die
Regierungsparteien in die letzten moralischen Bollwerke gegen eine
drohende Machtergreifung und verleiht ihnen einen quasi-oppositionellen
Heiligenschein.
Regierende gleichzeitig als Herrschende und Opposition
Dadurch, dass sich die Regierenden gleichzeitig als
Herrschende und als Opposition aufführen, hat sich die herrschende
Meinung verdoppelt. Kritik an den Herrschenden kann derart entweder als
inhuman und unmoralisch oder als defätistisch und demokratieschädlich
zurückgewiesen werden. Die Kongruenz von Moral und Regierungshandeln war
immer schon ein signifikanter Hinweis auf totalitäre Strukturen. Die
Beherrschten haben keine Möglichkeit der Kritik mehr und sind ihrer
Stimme beraubt.
Man kann fast jedes beliebige Großvorhaben der Politik
seit 2010 vor diesem Hintergrund der Vermählung von Macht und Hochmoral
als Beispiel anführen. Am deutlichsten wird es jedoch, wenn man sich an
die politischen und journalistischen Reaktionen auf das Auftreten der
sogenannten Rechtspopulisten um 2014 erinnert. Mit einer atemberaubend
elitär-asozialen Sprache wurde dieser unbekannte Protesttypus, der
vornehmlich im Osten auftrat, ausgegrenzt: Pack, Abgehängte, Verlierer,
Zurückgebliebene, Zukurzgekommene. Egal ob all diese Zuschreibungen
einen wahren Kern haben, entscheidend ist, mit welcher verbalen
Eiseskälte die politisch-journalistische Klasse den sogenannten
Bodensatz der Gesellschaft beleidigt, erniedrigt und bekämpft hat.
Selbst wenn jeder Pegida-Mitläufer und jeder
AfD-Wähler ein Abgehängter und Verlierer wäre, die
politisch-journalistische Klasse, die ständig Einigkeit, Solidarität und
sozialen Ausgleich im Mund führt, hat mit den von ihr gewählten
Zuschreibungen ihre zutiefst asoziale Fratze gezeigt. Und keinen hat's
gekratzt. Man sollte sich einfach im Umkehrschluss vorstellen, die FDP
würde jeden Demonstranten auf einer DGB-Kundgebung als Pack und
Verlierer bezeichnen. Was wäre dann los in Deutschland! Der
Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts wird schon lange nicht mehr von der
FDP repräsentiert, sondern von den Grünen. Moralische
Selbstermächtigung und asoziale Arroganz sind noch nie so geschlossen
marschiert wie in den letzten Jahren.
Die Linke ist nur noch grün
Die Linke in Deutschland ist schon lange nicht mehr
links, sondern nur noch grün. Sie hasst mit einem Furor diejenigen, die
vor wenigen Jahrzehnten noch als Proletariat galten und unter ihrem
Schutz standen: die Abgehängten. Ihnen ist es inzwischen schnurzpiepe,
wie hoch die Heizkosten steigen, wie weit man mit seinem Diesel noch
fahren kann, wie teuer der Tabak wird und ob man sich die Pauschalreise
nach Spanien noch wird leisten können. All das verachten sie so tief und
vollumfänglich, weil ihre eigenen Lebensentwürfe damit überhaupt nichts
mehr zu tun haben. Sie verstehen sich in Selbstoptimierung, in
Akademisierung, Opfersprech und Genderequality. Die Pfründe, die sie
verteidigen, sind die Pfründe einer neuen Elite, die ihren Adelsstand
aus ihrer moralischen Hochbildung ableitet.
Zurück zur herrschenden Klasse! Deren herrschende Meinung ist weder links noch rechts. Sie ist schlicht: grün. Wir
haben uns versündigt, wir müssen Buße tun, wir müssen uns
entschuldigen, wir müssen alle aufnehmen und dabei das Klima und die
Welt retten. So tönt es von der CDU über FDP und die SPD bis zu den
Grünen und weiten Teilen der LINKE. Mit dieser Selbstanklage-Moral
werden die politischen Großprojekte unterfüttert und werden die
Rechtsbrüche, die diese Großprojekte notwendigerweise begleiten,
abgesegnet. Ob Atomausstieg, Euro-Rettung oder Schutz der Landesgrenzen:
das herrschende Prinzip der Politik lautet Entgrenzung bis zur
Gesetzlosigkeit. Das ist das Projekt, an dem ein George Soros genauso
arbeitet wie eine Annalena Baerbock. Und wer hätte noch vor wenigen
Jahren für möglich gehalten, dass globalistische Börsenspekulanten und
die Dummchen der Grünen Jugend mal gemeinsame Sache machen würden?
Die herrschende Meinung versteht sich nicht mehr als
politisch, sondern als universell. Sie ist moralisch wie auch
pragmatisch. Wer das Brettspiel Mühle kennt, wird um einen Spielverlauf
wissen, bei dem einer der beiden Spieler eine Zwickmühle errichtet hat.
Mit dem Öffnen der einen Mühle kann er gleichzeitig eine andere Mühle
schließen und dem Gegenspieler einen Stein wegnehmen. In diesem Zustand
der Zwickmühle befindet sich die politische Kultur in Deutschland. Wenn
die FAZ schreibt, dass wir Flüchtlinge brauchen, damit die Wirtschaft
brummt, schreibt die taz, dass wir Flüchtlinge brauchen, um eine
moralisch bessere Gesellschaft zu werden. Wenn die CDU den Atomausstieg
und die galoppierenden Strompreise als Rettung der Welt vor dem
Untergang verkauft, verlangen de Grünen im gleichen Atemzug, dass die
CO2-Werte, die aufgrund des Atomausstieg nicht gesenkt werden konnten,
zu Fahrverboten führen müssen. Und jedes Mal wird der beherrschten
Klasse dabei ein Stein weggenommen.
Die Verdoppelung der herrschenden Meinung hat zuerst
zu einem immer kleiner werdenden Korridor der Kritikmöglichkeit geführt.
Inzwischen ist dieser Korridor so gut wie verschwunden. Übt man Kritik
an der herrschenden Meinung, hat man nur noch die Wahl des Vorwurfs.
Entweder ist man dann nationalistisch oder man ist fremdenfeindlich,
entweder ist man islamophob oder undemokratisch, entweder ist man
wirtschaftsfeindlich oder inhuman, entweder ist man ein Klimasünder oder
ein Klimaleugner, entweder "geht's uns doch so gut" oder "dafür müssen
wir uns aber schämen".
Wenn sie bis hierher mit dem Lesen durchgehalten haben, gehören sie ganz sicher nicht: zur herrschenden Klasse.
Das und noch viel mehr behandelt
Markus Vahlefeld in seinem neuen Buch: Macht Hoch die Tür – Das System
Merkel und die Spaltung Deutschlands, Oktober 2018, erhältlich hier: www.markus-vahlefeld.de
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