Ein kluger Aufsatz aus der „WELT“.
Von Andreas Rosenfelder:
Teile des deutschen Journalismus haben in der Corona-Krise eine Wagenburg ums Kanzleramt gebildet. Sie sehen ihre Aufgabe darin, die Stategie der Regierung zu verteidigen, und richten ihre Kritik stattdessen auf die „unvernünftigen“ Bürger.
Was ist der Job eines Journalisten? Die kürzeste und einfachste Antwort lautet: Aufklärung. Dazu gehören, seit die freie Presse im 18. Jahrhundert entstand, die genaue Beobachtung der Verhältnisse, das Formulieren von Kritik und das Aufdecken von Skandalen.
All das tun Journalisten auch heute noch – fragt sich nur, worauf sie ihre Energie richten. Verfolgt man die mediale Diskussion über die Versäumnisse der Bundesregierung bei der Organisation des Corona-Impfstoffs, so kann man den Eindruck bekommen, nicht die Politik, sondern die Kritik an dieser Politik sei der eigentliche Skandal.
Reihenweise warfen sich Medienvertreter in die Bresche, um die Verantwortlichen in Schutz zu nehmen vor den Vorwürfen, die der „Spiegel“ mit einer spektakulären Recherche über „Das Impfstoffdrama“ in Gang gesetzt hatte – ein Drama, das nicht nur das Leben der vom Virus bedrohten Menschen gefährdet, sondern auch den unzumutbaren Zustand des Lockdowns verlängert.
„Nicht alles ist optimal gelaufen, aber die Alternativen waren schlechter“, so schrieb der ZDF-Korrespondent Stefan Leifert auf Twitter und belehrte die Kritiker der Bundesregierung in einer Staffel von zehn Tweets darüber, dass sie falsch liegen. Die ARD-Moderatorin Anne Will kommentierte Leiferts Beitrag mit dem Emoji für Applaus, und Birthe Sönnichsen, Redakteurin im ARD-Hauptstadtstudio, übersetzte das Ganze noch einmal in die Sprache einer journalistischen Sonderpädagogin: „Bitte lesen. Bitte abregen. Bitte froh sein, dass sich Deutschland für den europäischen Weg entschieden hat. Bitte Liefermengen klar kommunizieren. Bitte jetzt die Organisation in den Bundesländern perfektionieren. Bitte nicht mehr blame game spielen.“
Bloß keine Schuldzuweisungsspiele! Vermutlich hätte die junge Kollegin das auch gesagt, wenn sie 1962 gelebt und den legendären „Spiegel“-Titel „Bedingt abwehrbereit“ in die Finger bekommen hätte, immerhin warf das Magazin der Bundesregierung damals Versagen beim Schutz der Bevölkerung vor einem russischen Atomschlag vor. „Blame Game“ – so nennen öffentlich-rechtliche Journalisten heute die Kritik an jenen, die politisch Verantwortung tragen und die, das nur nebenbei, selbst keinerlei Skrupel haben, Glühwein trinkende Bürger für das Scheitern ihrer Corona-Strategie verantwortlich zu machen – so tat es Jens Spahn im Dezember, beklatscht von der Journalistenblase. Uns Spahn?
Einer der Hauptverantwortlichen.
Kein Wunder, dass er – als Bundesgesundheitsminister mitverantwortlich für das Impfdesaster – den Tweet des ZDF-Manns teilte und dass auch Armin Laschet, der in Nordrhein-Westfalen einen suboptimalen Impfstart zu verantworten hat, ihn weiterempfahl und mit einer Kritik an „nachträglicher Besserwisserei und parteipolitischem Kleinklein“ verband.
Man muss sich dieses Szenario noch einmal modellhaft vergegenwärtigen, um es in seiner schockierenden Drastik zu erkennen: Da gibt es Journalisten, die durch eine Recherche aufdecken, dass in einem für jeden Bürger dieses Landes folgenreichen Ablauf schwere Fehler gemacht wurden – und dann kommen andere Journalisten, die ihre Aufgabe darin sehen, diese Fehler herunterzuspielen, die Alternativlosigkeit einer Strategie, bei der „nicht alles optimal“ war, nachzuweisen („die Alternativen waren schlechter“) und sich gegenseitig mit kindischen Klatsch-Emojis und digitalen Bitte-bitte-Appellen noch in ihrer PR-Kampagne für die Bundesregierung zu unterstützen.
Die einen decken etwas auf, die anderen schütten es wieder zu. Wissen sie nicht, dass das selbst dann nicht ihre journalistische Aufgabe wäre, wenn die Bundesregierung in der Krisenpolitik – und es gibt wenig Anlass, das anzunehmen – wirklich alles richtig gemacht hätte? Merken sie nicht, wie sie beim verzweifelten Versuch, das aus Gründen angeknackste Vertrauen in die Politik zu retten, das Vertrauen in den Journalismus nachhaltig beschädigen? Ist ihnen nicht bewusst, dass sie dabei ein Meinungskonglomerat aus Politik und Medien erzeugen, das jeden Kritiker der „Systemmedien“ in seinen krudesten Fantasien bestätigt?
Eine Wagenburg um das Kanzleramt
Der Umgang vieler Journalisten mit den Versäumnissen beim Impfen steht exemplarisch für die Rolle der Medien in der Corona-Krise: Noch nie zuvor, auch in der Flüchtlingskrise nicht, hat sich die deutsche Medienlandschaft so dicht um das Bundeskanzleramt geschart – diesmal allerdings nicht, um es gnadenlos zu belagern, so, wie es die 2001 in Herlinde Koelbls gleichnamigem Dokumentarfilm verewigte „Meute“ der Hauptstadtjournalisten tat, sondern im Gegenteil – als schützende Wagenburg.
Die Hauptstadtmedien schirmten die Corona-Politik der Bundesregierung gegen Angriffe von Dritten ab, sie stellten die ausgegebenen Marschrouten in Form von Leitartikeln an ihre Leser durch und richteten ihre brachliegende kritische Energie einfach auf die „unvernünftigen“ Bürger, die regelmäßig dafür gegeißelt wurden, sich nicht so zu verhalten, wie sich das die Corona-Strategen und ihre medialen Dolmetscher wünschten.
Dort unten, an den Subjekten des Regierungshandelns, konnte sich der „kritische“ Journalismus dann doch noch austoben, da wurde von den Medien ein „Skandal“ nach dem anderen aufgedeckt – ob es nun die feiernden Jugendlichen im Park waren, die Urlaubsreisenden im Sommer und Herbst, die gestressten Last-Minute-Weihnachtseinkäufer oder jetzt eben die Familien, die sich einen Hang zum Schlittenfahren suchen.
Politische Fragen, die in einer so fundamentalen Krise auf der Hand liegen und sich gerade dann aufdrängen, wenn man die Gefahr durch Corona ernst nimmt, blieben liegen oder wurden spät und pflichtschuldig abgehandelt: Texte, die die Effektivität der Lockdown-Strategie bei der Bekämpfung der Pandemie kritisch untersuchen, waren lange eine Rarität, und der Gedanke, dass der Schutz der Risikogruppen eine wichtige Ergänzung zur Reduzierung aller Kontakte, ja vielleicht sogar eine Alternative dazu sein könnte, kam im medialen Mainstream erst an, als der zweite Lockdown längst beschlossen war und das Sterben in den Altersheimen dennoch weiter zunahm.
Das mediale Interesse an Ländern, die auf den Lockdown verzichten, ist immer nur dann groß, wenn man dort den totalen Zusammenbruch prognostizieren kann – wenn er ausbleibt, wie derzeit in der Schweiz, lässt die Aufmerksamkeit nach, obgleich doch dort wie in einem Labor zu beobachten wäre, ob die Stilllegung der gesamten Gesellschaft wirklich so alternativlos ist.
Durch ergebnisoffene Neugier, durch prinzipielles Misstrauen und Widerspruchsgeist – alles alte Tugenden des Journalismus – zeichnet sich die Medienlandschaft im von der Krise gelähmten Deutschland nicht aus, und das gilt nicht nur für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ etwa war im letzten Jahr staatstragender unterwegs als zu Zeiten Helmut Kohls.
Im Leitartikel der Silvesterausgabe bat Jasper von Altenbockum den Staat stellvertretend für die Bürger um „Verzeihung“ für die „vielen bewussten oder unbewussten Regelbrüche, die das Virus nicht verzeiht“. Die Corona-Politik sei in der Krise „nicht an die Grenzen des Staates, sondern an die der Gesellschaft gestoßen“ – soll heißen: Da wäre noch viel mehr drin gewesen an staatlichem Übergriff, wenn die Leute nur nicht so schlecht mitgespielt hätten.
Auf der Medienseite derselben Zeitung hatte Michael Hanfeld den deutschen Journalismus kurz vorher so arrogant und pauschal gegen jedwede Kritik verteidigt, dass man sich spätestens nach der Lektüre dieses Artikels fragen musste, ob nicht doch etwas an den Vorwürfen dran ist. „Zu viel Regierungsverlautbarung, zu viel Jens Spahn, zu viel Karl Lauterbach, zu wenig eigene, kritische Ansätze, zu wenig über andere Länder, zu wenig über divergierende wissenschaftliche Ansätze“: So fasste Hanfeld die relativ objektive Lagebeschreibung des Dortmunder Kommunikationswissenschaftlers Claus Eurich zusammen, der im Frühjahr ein „Systemversagen des Journalismus“ diagnostizierte – was Hanfeld dann aber als „Bild-Manier“ abkanzelte und brav mit einem Sinnspruch seines Herausgebers Werner D’Inka vom Tisch fegte: „Nicht alles, was Sie nicht gesehen haben, haben wir nicht nicht gesendet.“
Ja, so muss es wohl sein: Der Leser ist schuld, wenn er die filigran im Programm versteckte Kritik nicht erkennt. Die hat es tatsächlich in allen deutschen Zeitungen gegeben, sogar in der „Süddeutschen“, die doch keine Gelegenheit ausließ, die Dogmen der deutschen Corona-Politik in ihrer Sinnhaftigkeit zu erläutern (unvergesslich: „Der Lockdown ist gut für die Wirtschaft“).
Doch die fragenden Stimmen verhallten in jener großen Kathedrale der Angst, die in der Krise von Politik und Medien gemeinsam errichtet wurde – und die der Kritik schon dadurch den Status der Häresie zuwies, dass die Kritiker der Maßnahmen in einer grotesken Täter-Opfer-Umkehr immer wieder für das Übel der Pandemie verantwortlich gemacht wurden.
Schon die Wörter „Kritik“, „Kritiker“ und „Skeptiker“ wurden in der Krise mit negativem Beiklang aufgeladen. Dass der Journalismus mit dieser Umwertung der aufklärerischen Werte seinen eigenen Wesenskern beschädigt, kann man daran sehen, dass immer mehr Leser ins Dunkelfeld der „alternativen“ Medien abwandern, um sich jene Perspektiven, die ihnen der Mainstream als vernünftige Option verweigert, in angeschärfter Form bei „Tichys Einblick“ oder „Reitschuster“, „Epoch Times“ oder „KenFM“ abzuholen.
Die Verlorenen
Dieses aufgegebene Publikum, das oft ein liberales und urdemokratisches Weltbild mitbringt, die liberale Demokratie in der Krise aber nicht mehr wiedererkennt, wird nicht einfach zurückkommen, wenn die Impfung läuft. Es bleibt für unser politisches und mediales „System“, das in seiner Einzigartigkeit unbedingt schützens- und bewahrenswert ist, auf Dauer verloren.
Aber wie konnte es dazu kommen, dass ein Virus dem Journalismus die Vielfalt, die kritische Energie austreibt? Die Antwort lautet wie immer in der Pandemie: Das Coronavirus dockt nur an vorhandene Strukturen an, es beschleunigt Prozesse, die längst im Gang sind. Dieser begann schon mit der Flüchtlingskrise, mit den Demonstrationen von Pegida und dem Bundestagseinzug der AfD.
Der Journalismus hat auf den Boom des Populismus, der auch ein Frontalangriff auf die als „Lügenpresse“ verteufelten Medien war, in weiten Teilen falsch reagiert: Im Bemühen, die pauschale Medienkritik zu widerlegen, glichen sich die Medien jenem Zerrbild an, das die Demagogen von ihnen zeichnen. Statt den richtigen Impuls aufzunehmen, den auch die falscheste Kritik für den klugen Interpreten bereithält, stellten sie sich verteidigend vor die politischen Eliten, als deren Verbündete sie vom Mob auf der Straße angesprochen wurden – und verhielten sich so, als träfe der Vorwurf zu.
Wer keine Populisten will, muss die Probleme lösen
Statt sich jenen blinden Flecken staatlichen Handelns zuzuwenden, deren mediale Vernachlässigung die „Frustrierten“ und „Abgehängten“ in die Fundamentalopposition treibt, glaubten die Medien, sie könnten den Populismus wieder zum Verschwinden bringen, indem sie seine Vertreter und seine Anhänger nur lange genug ins Sperrfeuer ihrer Kritik nehmen und deren Überzeugungen in immer neuen Anläufen als falsch darstellen.
Das hat in der Flüchtlingskrise nicht funktioniert, und man darf skeptisch sein, ob es in der Corona-Krise hilft. Wenn Politik und Medien so eng zusammenstehen wie am Ende dieser fast schon ewigen großen Koalition, können sie sich zwar gegenseitig bei Twitter auf die Schultern klopfen – doch der gemeinsame Grund der Gesellschaft wird allmählich schmaler, und irgendwann bricht der Boden unter den Füßen weg.
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler mag Angela Merkel im „Tagesspiegel“ im Stil eines wilhelminischen Hofhistorikers schon jetzt bescheinigen, dass „von ihr eine ganze Menge bleiben“ wird, Anne Wills Talkshow mag sich als Tribunal verstehen, das Kritiker von Merkels Corona-Strategie mit freundlicher Unterstützung von Annalena Baerbock und Karl Lauterbach aburteilt.
Aber einen Gefallen tut der Kanzlerin damit weder der eine noch die andere. Unser System – das ist die von den Populisten verkannte Wahrheit – basiert nämlich seit der Aufklärung auf dem kritischen Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit. Eine Symbiose zerstört es.
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