Donnerstag, 19. März 2020

7 Fehler der Corona-Politik

vom 19.03.2020
Guten Morgen,  
die Kanzlerin hat sich in der Corona-Krise mit einem dramatischen Appell an die Bevölkerung gewandt. Interessant sind vor allem jene Vorschläge aus dem Kreise der Experten, die nicht den Weg in die TV-Ansprache fanden: 
► Sie will derzeit nicht wie in Frankreich, Spanien und Norditalien eine Ausgangssperre über dem Land verhängen, obwohl sie das muntere Treiben in den Biergärten und Shopping-Centern nervt. Merkel weiß: Ihr großes Ziel, eine Unterbrechung der Infektionsketten, kann sie so nie erreichen. 
► Sie will derzeit nicht – wie Donald Trump in den USA, Pedro Sánchez in Spanien und Simonetta Sommaruga in der Schweiz – den „Nationalen Notstand“ verkünden. Dieser Ton ist ihr eine Oktave zu hoch.  
► Sie will derzeit auch nicht sprechen über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren zur Durchsetzung einer medizinisch induzierten Notgesetzgebung. Der Respekt vor der düsteren deutschen Geschichte hält sie davon ab. 
Stattdessen versuchte es Merkel in der Pose der zürnenden Mutti:
Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ 
Hamstern, als werde es nie wieder etwas geben, ist sinnlos und letztlich vollkommen unsolidarisch.“ Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge.“ Ich appelliere an Sie: Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten.“  
Dann, ganz zum Schluss, hielt sie doch noch eine subtile Drohung bereit für den Fall, dass ihre Appelle nicht fruchten: 
Wir werden als Regierung stets neu prüfen, was sich wieder korrigieren lässt, aber auch: was womöglich noch nötig ist.“
Fazit: Merkel bleibt Merkel. Sie tastet sich in die Situation hinein. Oder um es im Jargon der Bundeswehr zu sagen: Leben in der Lage.  
Merkels Auftritt – ihre erste TV-Ansprache in Krisenzeiten – reflektiert die in kürzester Zeit veränderte politische Situation. Denn während sich die Bevölkerung noch hinter der Kanzlerin und ihrem Gesundheitsminister versammelt, machen Ärzte, Wissenschaftler und führende Virologen des deutschen Gesundheitssystems mobil gegen sie. Hier die sieben wichtigsten Vorwürfe:  
1. Zu spät habe die Bundesregierung den Vorsprung, der durch das chinesische Beispiel geschaffen wurde, genutzt und die Lehren aus Wuhan gezogen. Nur eine frühe und radikale Isolation der gesamten Stadt führte dort zu einer Unterbrechung der Infektionsketten. Deutschland dagegen ließ die Flughäfen, die Seehäfen und alle übrigen Grenzstellen offen, sodass die Infektion aus China und später dann aus Italien und Österreich ungehindert importiert werden konnte.  
2. Zu halbherzig habe man die Intensität des öffentlichen Lebens nach unten gepegelt. Restaurants, Bars, Bordelle, Kinos, Konzerthallen und Karnevalsvereine blieb es selbst überlassen, die Geselligkeit einzuschränken oder fortzusetzen. So konnte sich das Virus hierzulande explosionsartig vermehren. Auch die frühe Schließung der Schulen wurde nicht verfügt. 
3. Zu sorglos sei man mit dem Personal des medizinischen Betriebs umgegangen. Die für eine Pandemie notwendigen Vorräte an Schutzbekleidung seien vielerorts nicht vorhanden, das Material wurde nicht aufgestockt, sondern teilweise sogar nach China verschenkt. In den Kliniken und Arztpraxen können die Coronainfizierten derzeit nur mit hohem Risiko für die Beschäftigten behandelt werden.  
4. Zu pauschal sei man bei der Bekämpfung der Pandemie vorgegangen: Statt die tatsächliche Risikogruppe von älteren Menschen über 70 Jahren und solchen mit gravierenden Vorerkrankungen (zum Beispiel der Atemwege) mit gezielten Maßnahmen zu schützen, etwa durch eine strikte Quarantäne für alle Senioren, hat man alle Deutschen gleich behandelt. Die Regierung wollte politisch korrekt sein – so der Vorwurf – und ließ damit die Senioren im Stich. 
5. Zu leise hätten die Kanzlerin und ihr Gesundheitsminister mit der Bevölkerung kommuniziert. Die Tatsache, dass 60 bis 70 Prozent der Bürger in den kommenden Monaten mit einer Infektion rechnen müssen, erfuhr die Bevölkerung durch eine Indiskretion aus der Bundestagsfraktion von CDU und CSU. Bis heute gibt es keine gut erreichbare Hotline. Weder an den Schulen noch in den Betrieben fanden seitens des Staates Aufklärungsveranstaltungen statt. Eltern, Lehrer und Personalchefs suchen sich wie in einem großen Puzzlespiel die Informationen bei Google zusammen. 
6. Zu national sei die Rettungspolitik. Österreicher, Italiener, Franzosen und vor allem Amerikaner spielen ihr eigenes Spiel, auch Merkel gelang es nicht eine internationale Koordination durchzusetzen. „Spiegel“-Autor Nils Minkmar schreibt in einem Essay : „Heute muss man feststellen, dass Europa die bislang größte Enttäuschung in der Krise ist.“  
7. Zu teuer: Die ökonomischen Kosten dieser zunächst halbherzigen und dann ruckartigen, nationalstaatlichen Bekämpfung steigen mit jedem Tag. Die deutsche Wirtschaft erlebt ihre brutalste Abbremsung in Friedenszeiten. Seit seinem Jahreshöchststand am 19. Februar sackte der Dax um fast 37 Prozent ab. Auch die Realwirtschaft spürt dramatische Folgen. Viele Firmen – darunter auch Lufthansa, TUI, die Banken und die Autoindustrie – könnten ins Trudeln geraten. 
Fazit: Die Welle der Vorwürfe rollt nun auf das Kanzleramt zu. Merkel ist längst eine Getriebene. Ihre Politik der Appelle ist begründungspflichtig geworden. 
Ich habe mit dem deutlichsten und, wie ich glaube, kompetentesten Kritiker der Kanzlerin gesprochen: Professor Andreas Kekulé. 

Er ist leitender Virologe an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und macht im Morning Briefing Podcast klar, dass er von einer Politik der Appelle nichts hält:  
Wir sind jetzt fünf Minuten nach zwölf und nicht mehr fünf vor zwölf.“ Offen spricht er über den Materialmangel im Gesundheitswesen: Die Infektionsschutzmasken sind weder zum Schutz der alten Bevölkerung da oder der kranken Bevölkerung, noch sind sie, was ja viel schlimmer ist, für die Krankenhäuser da. Eine Katastrophe und ein Verstoß gegen das Arbeitsschutzgesetz.“ In dieser Situation, wo die Infrastruktur anfängt zu versagen, sind wir gerade.“ Es ist eine knallharte Fehleinschätzung, dass man gesagt hat, es ist in Ordnung, wenn ganzen Familien aus Norditalien zurückkommen mit den Kindern, wo viele sich infiziert hatten. Das ist die Methode, um wirklich eine explosionsartige Vermehrung hinzukriegen.“ Kekulé gehen die bislang getroffenen Regelungen nicht weit genug: Wenn wir Deutschen perfekt diszipliniert wären und man wirklich wie mit einer Fernsteuerung jeden einzelnen dazu bringen würde, diese Regeln zwei Wochen lang einzuhalten, könnte man die Krankheit eliminieren. Aber der Mensch ist eben ein Mensch.“  
Für den Virologen bleibt als Lösung nur das eine:
Deshalb ist der einzige Weg zu verhindern, dass sich dann irgendwelche völlig Uneinsichtigen privat statt im Club treffen, tatsächlich die Ausgangssperre. Dann kommen die da gar nicht mehr hin.“ 
Die Regierung habe sich durch ihr verspätetes Eingreifen selbst in diese missliche Lage gebracht. Nicht das Virus sei schuld, sondern die Regierung: 
Wir haben viel zu spät angefangen zu bremsen, jetzt sind wir mit dem Bleifuß auf der Bremse. Wir versuchen irgendwie zum Stehen zu kommen vor dieser Betonmauer.“ 
Dabei zeige Taiwan, was rechtzeitig getroffene Maßnahmen hätten bewirken können:  
Die haben gar keine Probleme, die denken nicht im Traum an Ausgangssperren. Denen geht es sehr gut. Die haben 20, 30 Fälle am Tag. Die werden vom Gesundheitsdienst identifiziert und in
Quarantäne gebracht. Und das Leben geht relativ unbeschwert weiter. Denen wird so etwas nicht zugemutet, weil sie eben viel früher angefangen haben, zu planen.” 
Die Regierung sei selbst schuld, dass nun der Egoismus des Einzelnen zum Tragen komme: Wir haben es vergeigt, jetzt müssen wir das ausbaden. Diese letzte Verteidigungslinie, dass sich jeder selbst helfen muss, die ist jetzt erreicht.”  
Erstens: Als die Tageszeitungen, die am heutigen Morgen am Kiosk liegen, längst im Druck waren, hat die Europäische Zentralbank ein Notkaufprogramm für Anleihen in Höhe von 750 Milliarden Euro angekündigt. Es soll dabei um Wertpapiere der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft gehen. EZB-Chefin Christine Lagarde: „Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliches Handeln.“
Zweitens: In Europa sind mittlerweile mehr Menschen an den Folgen des Coronavirus gestorben als in Asien. Wie aus einer Berechnung offizieller Zahlen durch die Nachrichtenagentur AFP hervorgeht, starben bis Mittwochvormittag in Europa mindestens 3422 Menschen, in Asien waren es 3384. Am heutigen Morgen meldet China erstmals einen Tag ohne neue Infektionen.
Drittens: In der bayerischen Stadt Mitterteich wurde eine Ausgangssperre verhängt. Damit ist dort das Verlassen des Hauses, sollte es keinen triftigen Grund geben, verboten. Mitterteich ist die erste deutsche Stadt, die eine solche Maßnahme ergreift. 
Viertens: Das Coronavirus gefährdet Trumps Wiederwahl. Vor allem die sogenannten Blue Collar Jobs sind bedroht. Die Wirtschaftsflaute könnte bis zum Sommer drei Millionen amerikanische Jobs kosten, prognostiziert das Economic Policy Institute in Washington. 
Fünftens: Was für Auswirkungen die Coronakrise auf die Lufthansa haben wird, dürfte Carsten Spohr heute bei der Vorstellung der Geschäftszahlen für das Jahr 2019 erklären. Wegen der Coronakrise wird Lufthansa das Flugangebot um bis zu 70 Prozent kürzen. Ein Weiterleben ohne Staatshilfen ist schwer vorstellbar.

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