Chemnitz mit Links im Text

Die verlorene Ehre der Bürger von Chemnitz


Chemnitz macht fassungslos - noch nie wurde eine ganze Stadt wegen Fake-News von Medien und Politik derart verleumdet. Soll hier ein Exempel gegen jeden, aber auch jeden Regierungskritiker statuiert werden?
 Odd Andersen/AFP/Getty Images
Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann ist der Titel einer 1974 erschienene Erzählung von Heinrich Böll. Es ist eine  Abrechnung mit der Bild-Zeitung und den Medienpraktiken dieser Jahre. Böll beschreibt, wie eine bisher unbescholtene, sowohl schlichte wie harmlose Frau wegen ihrer Freundschaft zu einem Straftäter Opfer der menschenverachtenden Berichterstattung wird, besonders eines bestimmten Blattes, das er nur „ZEITUNG“ nennt.  Sie wird als eiskalte, berechnende „Terroristenbraut“ verunglimpft und damit vor ihrem gesamten Umfeld bloßgestellt. Sie erhält eine Vielzahl von obszönen, hasserfüllten und beleidigenden anonymen Anrufen und Briefen. Nachdem als Folge der Ereignisse auch noch ihre bereits zuvor schwerkranke Mutter stirbt, tötet sie schließlich aus Wut und Verzweiflung den verantwortlichen Reporter.
In den Vorbemerkungen schreibt Böll: „Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“

Nicht eine, viele Zeitungen

Die Zeiten haben sich geändert. Verfolgt man die Berichterstattung über Chemnitz, dann sind seine Bürger in der Rolle der Katharina Blum. Die Bild-Zeitung hat sich geändert, sie hat dazu nicht beigetragen. Das sei ausdrücklich erwähnt. An ihre Stelle tritt heute eine Vielzahl von Medien, allen voran die gedruckten Leitmedien sowie ARD und ZDF. Sie gefallen sich in der Rolle, die sie anderen vorwerfen, von Hetzern und Hassern, die ihre Wut ausschütten und ihre Verachtung über eine Stadt und ihre Bürger, die das nicht verdient und dazu keinen Anlass gegeben haben.

Kein Staunen
Anne Will zu Chemnitz: Hat die Politik irgendwas gelernt?

Das Urteil über Chemnitz und seine Bürger wurde gesprochen wegen eines aussagelosen Videos, das als „Menschenjagd“ oder „Hetzjagd von Menschen“ zunächst von Social Media Kanälen der ZEIT verbreitet wurde und dann von fast allen Medien und Politikern ungeprüft übernommen wurde. Die Verwirrung geht so weit, dass die zuständige Polizei keine Hetzjagden erkennen kann – aber jetzt das übergeordnete Landeskriminalamt per Hotline danach suchen muss. Chemnitz: Anders als das ferne Bundeskanzleramt hat die Polizei vor Ort keine „Hetzjagden“ gesehen. Jetzt sucht das Landeskriminalamt per Telefon-Hotline nach Gehetzten. Wetten, die werden fündig?

Zusammenrottung aus dem Kanzleramt  

Vor diesem Hintergrund sollte man sich noch einmal Regierungssprecher Steffen Seibert vergegenwärtigen, der „Zusammenrottungen“ sah, Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, der sich dafür vor den Karren einer linksradikalen Band spannen ließ, eine Justizministerin Katarina Barley, die Rache an den Rechten von Chemnitz zur Leitlinie rechtsstaatlichen Handeln ausgab. Aus dem fernen Afrika konstatierte die Bundeskanzlerin: „Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab, dass es Hass auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun.“

Je weniger Fakten, desto klarer die Meinung
Bei Illner: Wer jagt wen?

Die Kanzlerin orientierte sich an virtuellen Welt der Medien, die mit der tatsächlichen Vorgängen nichts mehr zu tun hat. Dieses Bild hat sich verfestigt. Dass die Wirklichkeit eine andere ist? „Besser macht es das nicht,“ notierte der FAZ-Reporter Kim Björn Becker: Dass ein paar pubertierende Jugendliche den Hitlergruß zeigten, seien nur Einzelfälle gewesen „aber die Bilder sind nun einmal da, keine Chance sie zu löschen, nicht aus dem Internet und nicht aus den Köpfen der Menschen.“

Die verständliche Wut von Bürgern über einen Mord an einem jungen Mann und den schweren Verletzungen, die weiteren Passanten zugefügt wurden – kaum der Rede wert. Kein Wort des Bedauerns aus dem Bundeskanzleramt; Kollateralschäden der illegalen Einwanderung werden in Kauf genommen.
Die Ehre der Bürger von Chemnitz ist verloren. Aber es reicht nicht, das nur zu konstatieren.

Die Raserei der „Demokraten“

Es ist nicht nur die Sensationsgier vieler Medien, die das erklärt. Warum spielen sie zusammen? Warum ist kein Anlass zu nichtig, damit die Bundesregierungen und die sogenannten Oppositonsparteien wie die Grünen da mitgrölen und so viele teilnehmen an dieser Raserei bis hin zu Rockbands und Kirchenheinis? Entschuldigt hat sich bislang keiner. Dafür erhält die Stadt Mittel aus einem „Demokratiefonds“ der Bundesregierung …

Sie tun sich schwer mit der Wirklichkeit
Bei Maischberger: Chemnitzer Mord im Schatten von Reaktionen auf Reaktionen

Es geht wohl um mehr. Es geht um die Spaltung des Landes. Die demokratische Mitte soll aus dem öffentlichen Bild dadurch gelöscht werden, dass man die Bürger in zwei Gruppen teilt: Die guten, die Merkels Einwanderungspolitik kritiklos unterstützen. Die bösen, die es wagen, daran Kritik zu üben.

Und weil die Methode so wirksam ist, wird gleich ein ganzer Kanon von erlaubten/erwünschten und verbotenen Einstellungen mit abgeurteilt: Richtig liegt, wer die steigenden Kosten und zunehmende Umweltzerstörung der Energiewende gut findet, Null-Zinsen für eine Erfindung hält, die die Menschen endlich aus der Zins-Knechtschaft befreit und an die Suppenküchen der staatlichen Rentenversicherung führt, und der Linie der Kanzlerin in der EU-Politik, wobei beim letzteren Thema sich die Lage dadurch erschwert, dass sie keine Linie hat. Aber Zustimmung wird heute als Vorauszahlung ohne Lieferzusage verstanden.
Wer daran zweifelt, ist nicht mehr nur rechts. Seit Chemnitz ist er Nazi. Chemnitz wirkt wie ein Brandbeschleuniger, um endlich den Widerspruch in diesem Land auszubrennen. Und Nazi rechtfertigt alles.

Das schräge Bild in den Köpfen

Dafür wird jede Verzerrung in Kauf genommen: Dass der Osama-Bin-Laden-Leibwächter nach fast einem Dutzend Prozessjahren abgeschoben wird, wird zum Anschlag auf den Rechtsstaat hochgeschrieben. Dass der mutmaßliche Messer-Mörder des jungen Mannes in Chemnitz längst hätte abgeschoben werden müssen, wird nicht thematisiert. Das ist kein Staatsversagen, sondern Normalität: Bei solchen „Flüchtlingen“ wird der Rechtsstaat asymmetrisch: Alle Rechte für sie, keine gegen sie. Immerhin darf Martenstein im Tagesspiegel noch schreiben: „Auch der Chemnitzer Tatverdächtige, vorbestraft wegen gefährlicher Körperverletzung, hätte längst abgeschoben werden müssen, wie Anis Amri und andere. Man hat den Eindruck, dass nicht dazugelernt wird. Statt dessen läuft in Politik und einigen Medien nach solchen Taten eine Beschwichtigungs- und Relativierungsroutine an, oft mit dem Tenor, dass diese Taten genauso von messerschwingenden Jungs aus Oberbayern hätten begangen werden können. Unterton: Wer diese Zustände nicht klaglos erträgt, sei rechtsradikal.“ Oder gleich „Nazi“.

Voll daneben
Hart aber Fair: Chemnitz ist nun überall

Der Begriff des „Schutzbedürftigen“ wird ausgeweitet – er ist vor jeder Anforderung, materiell, rechtlich, im Benehmen und bei Straftaten, vor dem Ausländerrecht bis hin zur Fahrscheinpflicht in der Straßenbahn zu schützen.

Da passt es, dass der Mord von Chemnitz, wie schon in Kandel oder anderswo, umgedeutet wird: In Kandel wird ein erwachsender „Flüchtling“ nur nach dem milden Jugendstrafrecht verurteilt, in Chemnitz demnächst nur auf Totschlag erkannt – dann ist die Strafe nur so hoch, wie sie auch jenem Justizbeamten droht, der den Haftbefehl veröffentlich und die Öffentlichkeit damit über die Hintergründe informiert hat.

Aufklärung ist strafbar?

Veröffentlichung, Aufklärung und Transparenz werden zu strafbeschwerten Taten. Und Journalisten machen mit, kaum einer beklagt, dass hier einer verurteilt werden soll, der den Job der Journalisten übernommen hat. Aufklärung ist strafbar. Dafür beklagt sich weinerlich eine Reporterin des Kinderportals Buzzfeed, sie sei von Nazis „angerempelt“ worden. Das darf nicht sein, genauso wenig, wie der neue Journalismus weinerlich geworden ist und sich wundern darf, nicht mehr als neutral angesehen zu werden. Dass ein „Trauermarsch“ von AfD und Pepiga stundenlang blockiert wurde und die anschließenden Gewalttätigkeiten von den lieben Linken ausging – mühsam beschwiegen.
Aber alle machen mit beim Chemnitz-Bashing. Weil es passt. Weil ein Exempel statuiert werden kann, auch wenn es ganz anders gelaufen ist?

Fakten statt Erzählungen
Leider kein Einzelfall: Der Mord von Chemnitz

Der spätere Bundespräsident Karl Carstens (CDU) äußerte sich sehr kritisch über Bölls „Verlorene Ehre“. In Unkenntnis wesentlicher Fakten und ohne das Buch gelesen zu haben, appellierte er an die Deutschen: „Ich fordere die ganze Bevölkerung auf, sich von der Terrortätigkeit zu distanzieren, insbesondere dem Dichter Heinrich Böll, der noch vor wenigen Monaten unter dem Pseudonym Katharina Blüm ein Buch geschrieben hat, das eine Rechtfertigung von Gewalt darstellt.“ Von Bluhm zu Blüm? Dafür ist Carstens heftig ausgelacht worden.

In Chemnitz allerdings vergeht einem das Lachen. Die Stadt und ihre Bewohner haben nicht ihre Ehre verloren. Sie wurde ihnen gestohlen.

Lehren aus Chemnitz - Wie konnte das passieren?

Nach den Protesten und Ausschreitungen in Chemnitz werden Bewohner der Stadt pauschal als Nazis verurteilt. Über den Auslöser der Ausschreitungen hingegen wird politisch wenig geredet. Das ist falsch und Kraftfutter für die AfD
Der Ort, wo ein Mann mutmaßlich erstoch wurde, mit Kerzen und Blumen
Der tödliche Angriff auf einen 35-Jährigen löste die Proteste aus / picture alliance


Der Spiegel macht auf seinem aktuellen Titel mit einem Federstrich aus ganz Sachsen Naziland. „Sachsen“, steht da als fette Schlagzeile, und der Schriftzug wird im Verlauf des Wortes immer gestriger. Drunter: „Wenn Rechte nach der Macht greifen“. 
Kleiner Gegencheck: Könnte man sich nach einem Vorgang wie in Chemnitz eine Schlagzeile vorstellen: „Flüchtlinge – wenn Messerstecher ein Land in Angst versetzen?“ Gott sei Dank nicht. Es gäbe mit Recht einen Aufschrei wegen unbotmäßiger Pauschalisierung, Erheben eines Generalverdachts und des Schürens von Ausländerfeindlichkeit.

Zulauf für die AfD

Richtig ist, dass es im Osten des Landes ein reales Problem mit unverhohlenem Rechtsextremismus gibt. Richtig ist auch, dass im Nachgang zur tödlichen Messerattacke von Chemnitz erschreckend viele Neonazis dort auf die Straße gegangen sind und es Vorfälle gegeben hat, bei denen sie sich auf fremd aussehende Menschen gestürzt und sie verfolgt haben. „Wie konnte das passieren?“, fragt sich seither ganz Deutschland.  
Die Vorgänge von Chemnitz sollten dennoch im Zusammenhang gesehen werden, die Relation der Beurteilung gewahrt bleiben und nicht alle aufgewühlte Chemnitzer zu Nazis erklärt werden. Dem Naziaufmarsch voran ging eine brutale Bluttat zweier tatverdächtiger Flüchtlinge an drei anderen Besuchern des Chemnitzer Stadtfestes. Das war das Primärereignis, die Demonstration und die Aufmärsche waren das Folgeereignis. Die Frage nach dem Auslöser dieses Primärereignis wurde weniger leidenschaftlich gestellt, obwohl doch dabei ein Mensch ums Leben kam und zwei schwer verletzt wurden. 
Eine regelrechte Erleichterung und eine große Leidenschaft waren in der politischen Debatte nach Chemnitz zu bemerken, sich auf das Folgeereignis stürzen zu können, um sich nicht so sehr mit dem Auslöser beschäftigen zu müssen. Wenn sich in den kommenden Wochen anhand weiter steigender Umfragewerte für die AfD jemand frage sollte: Wie konnte das passieren? Genauso konnte das passieren. Muss das passieren. Die politische Debatte der Tage nach Chemnitz, die Überlagerung des Auslösers durch die Folgen treibt der Partei die Wähler nur so in die Arme. 

Weder Hysterie noch Einbildung

Es ist töricht, friedliche Demonstranten von Chemnitz automatisch in die rechte Ecke zu stellen, weil Neonazis die Fernsehbilder beherrschen. Es gab einen Anlass, dessentwegen man durchaus auf die Straße gehen konnte, ohne Nazi zu sein. Wer in Berlin am 1. Mai für die Rechte der Arbeiter auf die Straße geht, solidarisiert sich deswegen auch nicht mit dem schwarzen Block, der rituell Schaufenster einschlägt und Getränkeläden plündert. 
Ja, es gibt ein Problem mit Neonazis in Deutschland. Es gibt aber auch ein gewaltiges Problem mit gewalttätigen Menschen, die als Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Die Polizeiliche Kriminalstatistik weist unbestreitbar aus, dass diese Gruppe weit überproportional an Tötungs- und Vergewaltigungsdelikten beteiligt sind. Der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer hat erhoben, dass dies auch innerhalb der Referenzgruppe der jungen Männer gilt.
Es ist also kein Ausweis von Hysterie und Einbildung, sich deshalb Sorgen zu machen und diese auch bei einer Demonstration zu äußern. Familienministerin Franziska Giffey hat mit ihrem Besuch genau dem Rechnung getragen: indem sie sowohl den Ort der Bluttat besucht hat, als auch über das Problem des Rechtsextremismus in Chemnitz gesprochen hat. So schwer ist das doch gar nicht, sich nicht nur in wohlfeilen Empörungen über die Rechtsextremisten zu ergehen, sondern sich auch dem anderen Thema zu stellen. Das eine ist Gratismut, allgemeinverträglich und risikofrei. Man könnte vom Heiko-Maas-Reflex sprechen. Das andere wäre echter Mut, der von vielen, die sich von der Politik enttäuscht abwenden, vermisst wird.  

Eine banale Offensichtlichkeit

Es wäre gut gewesen, Bundesinnenminister Horst Seehofer und Bundeskanzlerin Angela Merkel hätten gemeinsam das gemacht, wofür sie ihre Kabinettskollegin geschickt hatten. Denn erstens wäre das eine souveräne Geste gewesen, im Lichte eines so schrecklichen Ereignisses den Dissens über die Flüchtlingspolitik hintanzustellen. Und zweitens wäre es ein Signal gewesen, Verantwortung zu zeigen und zu übernehmen für beide Vorgänge. Den Mord und den anschließenden Mob und Aufwallung. 
Denn natürlich gibt es diese politische Verantwortung. „Die Messerattacke und die anschließenden Proteste in Chemnitz haben tiefe Gräben in der deutschen Gesellschaft aufgedeckt, die begannen, als Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 beschloss, mehr als einer Million Migranten die Tür zu öffnen, vor allem Muslime“, hat die liberale New York Times zu Chemnitz geschrieben. Eigentlich eine banale Offensichtlichkeit, die beinahe wortgleich Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki ausgesprochen hat. Und dafür politisch in der Luft zerrissen wurde. Er muss sich gefühlt haben wie das kleine Mädchen in einem von Hans Christian Andersens berühmtestem Märchen. 

Ausschreitungen in Chemnitz - Rückkehr der Besserwessis

Nach den Ausschreitungen in Chemnitz war man im Westen besonders schnell mit Verurteilungen des Ostens. Dabei müssten auch die klassischen Wessis endlich anfangen, ihre Sicht auf die Welt zu hinterfragen. Von Alexander Grau
Ein Passant geht in Berlin an an einem Wandbild mit der deutschen Nationalflagge und dem Schriftzug "Ossi oder Wessi? vorbei.
Auch der Westen muss jetzt lernen / picture alliance

Autoreninfo
Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Im Oktober erscheint sein Essay „Kulturpessimismus. Ein Plädoyer“ bei zu Klampen.

Normen und Werte werden gerne als Tatsachen verkauft. Das macht jede Diskussion über sie so schwierig. Denn über Tatsachen muss man nicht diskutieren. Und der, mit dem man darüber redet, hat diese Tatsachen zu akzeptieren. Sonst läuft er Gefahr, als dumm, uneinsichtig oder bösartig abgetan zu werden.
Um zu begreifen, dass Normen und Werte keine Tatsachen sind, sondern ziemlich kontingente und zudem auch noch relative Übereinkünfte, ist es notwendig, ein paar Schritte zurückzutreten und das eigene Weltbild von außen und mit kühlem Herzen zu betrachten. Dann könnte man – unter Umständen – erkennen, dass die Welt nicht so einfach ist, wie sie aus der Blase der eigenen Lebenswelt aussieht. 
Den eigenen Standpunkt zu relativieren und zu versuchen, das Gegenüber zu verstehen, setzt allerdings die Bereitschaft zu einer gewissen intellektuellen Beweglichkeit voraus. Doch paradoxerweise sind es häufig gerade die scheinbar Weltläufigen und Offenen, die sich als besonders borniert erweisen. Geradezu pathologische Dimensionen hat diese Form sich tolerant wähnender Engstirnigkeit im Milieu des saturierten westdeutschen Neubürgertums angenommen.

Eine Flut aus Abscheu

Hier, wo Westdeutschland so westdeutsch ist, dass man sich selbst nicht für einen Westdeutschen hält, sondern für einen Weltbürger, schaut man mit deutlicher Verachtung und zunehmenden Hass auf alles, was nicht das eigene Weltbild passt. Und dies findet sich vor allem in Ostdeutschland, insbesondere in Sachsen, dem vorgeblich allerdunkelsten Teil des vermuteten Dunkeldeutschlands.
Folgerichtig entlud sich im Zuge der Ereignisse in Chemnitz eine Flut aus Abscheu und kaum verhohlener Feindschaft aus den westdeutschen Medien. Und das dort, wo der sich aufgeklärt wähnende Westmensch sein bevorzugtes Refugium hat.
Dabei vergriff sich nicht jeder dermaßen im Ton wie ein bekannter Verlegererbe, der mit Blick auf Chemnitz von den „dicken, stiernackigen Männern, die mit ihren Glatzen aussehen wie Pimmel mit Ohren“ fabulierte und dem „Fleisch gewordene Rülpsen und Tölpeln, das die sozialen Medien durchflutet.“ 

Mit Helmut Kohl im Kanzleramt und Nena im Ohr 

Man liegt vermutlich nicht falsch, wenn man besagtem Kolumnisten zugesteht, dass er das intellektuelle Klima und das kulturelle Selbstverständnis des westdeutschen Juste Milieus nicht einmal falsch eingefangen hat. Denn hier herrscht tatsächlich jene moralische Arroganz, aus deren Perspektive jeder, der nicht genauso denkt wie man selbst, ein Abgehängter ist. Und so schert man über einen Kamm und ist nicht bereit, genauer hinzuschauen, zu differenzieren zwischen dem rassistischen Mob und jenen Menschen, die die Entwicklung in ihrem Gemeinwesen mit Sorge betrachten und bei denen das Gefühl von Ohnmacht – ob berechtigt oder nicht – in Zorn umschlägt.
Doch nicht jeder besorgte Bürger, der Wut im Bauch hat, da er sich von der Politik nicht gehört fühlt, ist ein Nazi oder ein Hooligan. Gerade in Ostdeutschland ist man aus historischen Gründen sensibel gegenüber der Propagierung von Demokratie und eines staatsoffiziellen Internationalismus. Denn fünfzig Jahre lebte man dort in einem totalitären Staat, dessen Eliten keine Skrupel hatten, ihn als demokratische Republik darzustellen und Völkerfreundschaft und Solidarität mit martialischen Marschkolonnen abzufeiern.
Aber statt die Erfahrungen und Sichtweisen vieler Ostdeutscher ernst zu nehmen und die eigene, festbetonierte Weltsicht zu hinterfragen, sonnt sich der Helldeutsche in dem Bewusstsein seiner Liberalität und seiner Toleranz. Aufgewachsen in den sicheren, behüteten und gemütlichen Jahren der späten Bundesrepublik mit Helmut Kohl im Kanzleramt und Nena im Ohr hat er sich, selbstverliebt in die Gewissheit eigener Liberalität und Weltoffenheit, eingezimmert, die ihn blind machte und bis heute macht für die Empfindlichkeiten und Sorgen in den neuen Bundesländern. Gefangen in einer Ideologie, die er selbst nicht als Ideologie wahrnimmt, sondern als progressive Gesinnung, bemerkt der angehängte Westdeutsche nicht die Beschränktheit der eigenen Weltsicht und die Herablassung die in ihr steckt.

Denkschemata müssen hinterfragt werden

Damit kein Irrtum aufkommt: Der Verfasser dieser Zeilen ist selbst Westdeutscher. Aber gerade deshalb weiß ich, wie verführerisch dieses westdeutsche Lebensgefühl ist und seine Scheingewissheiten. Genau davon aber gilt es sich schnellstens zu verabschieden.
Insbesondere dort, wo man selbstverliebt westdeutsche Gewissheiten kultiviert und mit Weltoffenheit verwechselt, täte man gut daran, das eigene Weltbild, die eigenen Vorurteile und Denkschemata zu hinterfragen. Sich selbst und seine Sicht der Dinge infrage zu stellen, das allerdings ist etwas, was der Westdeutsche in seiner Selbstgefälligkeit nur selten gelernt hat.

Fake News: Sachsens Generalstaatsanwalt widerspricht Merkel


Sachsens Generalstaatsanwaltschaft widerspricht Merkel

„Nach allem uns vorliegendem Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben.“ Das sagt kein Geringerer als Wolfgang Klein, Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen. Damit widerspricht er der Kanzlerin massiv. Diese und ihr Sprecher Steffen Seibert hatten behauptet, es hätte in der sächsischen Stadt „Hetzjagden“ auf Ausländer gegeben.

Ohne Belege behaupteten Kanzlerin und Regierungssprecher, es habe in Chemnitz „Hetzjagden“ gegeben. Auf Nachfragen schweigen beide
Es ist ein einfacher klarer Satz von Wolfgang Klein, Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Sachsen. „Nach allem uns vorliegenden Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben“, so der Beamte auf Anfrage von Publico. Damit widerspricht er direkt den Behauptungen von Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Sprecher Steffen Seibert, die beide unter Berufung auf von ihnen nicht näher beschriebene Videos behauptet hatten, in Chemnitz hätten „Hetzjagden“ stattgefunden – also sogar mehrere.
Die sächsische Generalstaatsanwaltschaft verfolgt alle Delikte im Zusammenhang mit dem Versammlungsrecht, zu denen es in Chemnitz am vergangenen Sonntag und Montag gekommen war: Hitlergrüße, Böller- und Flaschenwürfe, mögliche Übergriffe. Wegen des öffentlichen Zeigens von Hitlergrüßen verfolgt die Behörde ein dutzend Anzeigen. Fest steht auch, dass am Sonntag, den 26. August in einer Spontandemonstration von etwa 800 Menschen nach der Tötung eines jungen Chemnitzers durch zwei Asylbewerber auch etwa 50 gewaltbereite Personen aus der rechtsradikalen und Hooligan-Szene unterwegs waren. Von dieser Gruppe wurden mehrere Passanten angepöbelt und bedroht. Aber eine Hetzjagd in den Straßen von Chemnitz gab es weder nach Erkenntnissen der Behörden, noch existieren bis heute Fotos oder Bewegtbilder, die den Vorwurf stützen.

Damit bestätigt Klein, was vorher schon die Polizei Chemnitz feststellte, außerdem der Chefredakteur der „Freien Presse“ Torsten Kleditzsch, dessen Mitarbeiter am Sonntag das Geschehen beobachtet hatten, während keine überregionalen Teams unterwegs waren.
Wie kam es überhaupt zu der flächendeckenden Berichterstattung, in Chemnitz hätten „Hetzjagden“ stattgefunden? Wer nach der Quelle sucht, stößt auf ein einziges sekundenkurzes Video, gefilmt und ins Netz gestellt von einer Organisation „Antifa Zeckenbiss“. Darauf sind locker zusammenstehende Männer zu sehen; einer rennt drohend auf einen Passanten zu, schreit etwas von „Kanaken“, der Bedrohte flieht. Eine Frau ist mit dem Satz zu hören: „Hase, du bleibst hier.“ Das Mini-Video schaffte es in die ARD, die Morgenpost hob ein Still des Videos auf ihr Titelblatt. Der Schnipsel zeigt zweifellos einen versuchten Übergriff – aber keine Hetzjagd.
So richtig in Schwung kam die Berichterstattung über „Hetzjagden“ in Chemnitz erst, als am 27. August Regierungssprecher Steffen Seibert vor die Presse trat und sagte:
„Was gestern in Chemnitz zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.
Die „Tagesschau“ nahm das zum Anlass, um unter dem Leitsatz zu berichten: „Bundesregierung prangert ‚Hetzjagden’ an.“ Als Beleg in der Sendung diente wiederum nur der beschriebene Videoschnipsel von „Antifa Zeckenbiss“.
Aber nicht nur Seibert, auch Angela Merkel trat vor die Presse und erklärte:
„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“
Niemand hatte bis dahin entsprechende Videoaufnahmen gesehen. Aber die Beteuerung nicht nur des Regierungssprechers, sondern der Regierungschefin selbst, „wir“ – also die Regierung – verfüge über entsprechendes Material, musste als hochamtliche Bestätigung wirken.
Nur: die Regierung veröffentlichte die ominösen Hetzjagd-Videos daraufhin nicht. Sie stellte sie offensichtlich auch nicht der ermittelnden Behörde zur Verfügung.
Publico schickte deshalb am Freitag, 31. August um 16:47 Uhr per Mail eine Anfrage an Seibert:
Sehr geehrter Herr Seibert,
vor der Bundespressekonferenz sagten Sie zu den Ereignissen in Chemnitz:
„Was gestern in Chemnitz zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“
Nach Erkenntnissen der Polizei gab es am vergangenen Sonntag aus der Menge der Demonstranten drei verbale Angriffe auf andere Personen, in einem Fall auch durch Spucken, und einen mutmaßlichen Schlag mit einer Bierflasche. Über eine Hetzjagd bzw. „Hetzjagden“ liegen der Polizei keine Erkenntnisse vor. Zum aktuellen Zeitpunkt (Freitag, 31. August 16 Uhr) liegen auch der ermittlungsführenden Generalstaatsanwaltschaft Sachsen keine Erkenntnisse vor, die den Begriff „Hetzjagd“ rechtfertigen würde.
Nach Angaben des Chefredakteurs der „Freien Presse” Chemnitz Torsten Kleditzsch – des einzigen Mediums, dessen Journalisten am vergangenen Sonntag das Geschehen beobachtet hatten – gab es keine Ereignisse, die man als „Hetzjagd“ bezeichnen könnte, also das anhaltende Jagen von Personen durch Gruppen auf Straßen und Plätzen.
Unter einer Vielzahl von Videoaufnahmen vom Sonntag gibt es ein Video mit dem Account „Zeckenbiss“, auf dem ein einzelner Mann zu sehen ist, wie er auf einen anderen einzelnen Mann zu rennt. Dieses Video zeigt also ebenfalls keine Hetzjagd.
Da Sie explizit von Ihnen offenbar vorliegenden Videos sprechen, die „Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft“ in Chemnitz zeigen sollten, bitte ich Sie, mir diese Quellen zu nennen.
Zudem bitte um Beantwortung der Frage: Wie definiert die Bundesregierung den von Ihnen verwendeten Begriff „Zusammenrottung“?
Hält die Bundesregierung „Zusammenrottung” für illegal?
Hatten Sie vor Ihrem Statement Kontakt mit der Chemnitzer Polizei und/oder der örtlichen Staatsanwaltschaft?
Zum zweiten übermittle ich Ihnen hiermit zuständigkeitshalber auch eine Anfrage an Frau Dr. Merkel:
Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, bei einem Auftritt vor der Presse sagten Sie zu den Ereignissen in Chemnitz:
„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“
(Weitere Ausführungen s. Frage an Steffen Seibert.)
Deshalb bitte ich um die Beantwortung der Frage: Welche Videoaufnahmen oder andere Quellen liegen Ihnen vor, die Sie zu der Aussage bewogen haben, in Chemnitz habe es „Hetzjagden“ gegeben?
Wie definieren Sie den Begriff „Zusammenrottung“? Sind Sie der Ansicht, dass es sich bei einer „Zusammenrottung“ um ein Delikt handelt?
Ich bitte um eine baldige Antwort der Fragen an Sie, Herr Seibert, und an Frau Dr. Merkel.
Mit freundlichen Grüßen, Alexander Wendt
Publico
Bis jetzt gibt es keine Antwort. Auch nach einer schriftlichen Erinnerung am Samstag nicht.
Damit beginnt die Affäre erst. Dass die Regierungschefin selbst eine Fake News bestätigt, damit eine hysterische Falschberichterstattung erst so richtig in Gang bringt, und anschließend Fragen eines Mediums ignoriert – das wäre ein präzedenzloser Vorgang.
Der Fall wird sicherlich auch im Bundestag behandelt werden.

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