Sonntag, 28. Juli 2019

Boris Johnson - Biedermänner und Freigeister

Boris Johnson - Biedermänner und Freigeister


Boris Johnson wird in Deutschland von den Biedermännern der Politik mit Argwohn betrachtet. Eine Fehleinschätzung. Denn Johnson ist ein gebildeter Freigeist, der mit der deutschen Kleinbürgerei nichts am Hut hat.
Kleines Gedankenexperiment: Ist es vorstellbar, dass sich Michael Müller, seines Zeichens Regierender Bürgermeister von Berlin und wackerer Sozialdemokrat, ein Rededuell mit einer angesehenen Historikerin liefert, Thema: Welche antike Kultur ist die überlegene, die griechische oder die römische?
Seien wir ehrlich: Nein, das ist natürlich nicht vorstellbar. Michael Müller ist gelernter Bürokaufmann, wie es in viele gibt in Deutschland. Doch man tritt ihm gewiss nicht zu nahe, wenn man davon ausgeht, dass das Zitieren von Homer-Versen im Original nicht zu seinen Kernkompetenzen gehört. Und zu den Eigenarten griechischer und römischer Kultur hätte Müller vermutlich auch nicht allzu viel zu sagen. Es wäre einfach nur grotesk.

Argwohn ist die Reaktion des Biedermanns

Allerdings muss man sich dieses absurde Szenario spaßeshalber vor Augen führen, um zu verstehen, weshalb deutsche Politiker – und mit ihnen die deutsche Öffentlichkeit – Boris Johnson mit „Argwohn“ betrachten, wie es die Welt so schön formuliert hat. Denn Argwohn ist die Reaktion des Biedermanns, wenn ihm etwas zutiefst fremd ist. Dann mobilisiert er seine piefigen Ressentiments und das ihm Fremde wird gebrandmarkt: als nicht ganz koscher, als dubios und irgendwie unredlich. Und fremd muss Boris Johnson dem Mittelmaß, das die deutsche Politik beherrscht, zwangsläufig sein.

Wie ganz anders der neue britische Premierminister tickt und aus welcher Welt er stammt, wurde etwa vor vier Jahren deutlich. Da nämlich diskutierte der damalige Bürgermeister von London vor 2.200 begeisterten Zuhörern in der Westminster Central Hall mit der Althistorikerin Mary Beard, welche Kultur für die abendländische Entwicklung die größere Rolle gespielt hat: Griechenland oder Rom?

Oxford gegen Cambridge

Veranstaltet wurde die Debatte von einer sehr britischen Einrichtung, dem Diskussionsforum „Intelligence Squared“, das regelmäßig Streitgespräche zu ganz unterschiedlichen Themen aus Kunst, Geschichte, Politik oder Wirtschaft organisiert. In diesem Fall debattierte selbstredend nicht nur ein Bürgermeister mit einer Professorin, sondern hier trat Oxford (Johnson) gegen Cambridge (Beard) an. Altphilologe gegen Althistorikerin, Buchautor und Kolumnist gegen Wissenschaftlerin.
Und dann hielt Boris Johnson in typischer Johnson-Manier, mit schief sitzender Brille, Wuschelkopf und verbeultem Anzug, ein leidenschaftliches Plädoyer für die griechische Kultur, die Kultur freier Männer, für Stolz und Unabhängigkeit, aufgezeigt an dem Ungehorsam des Achill. Spätestens in diesem Moment, wenn er mit brillanter Rhetorik, immensem Witz und ebensolcher Schnoddrigkeit Rom als kulturellen Parasit und Untertanenstaat entlarvt, wird sonnenklar, dass ein solcher Mann hierzulande nur Irritationen hervorrufen kann.
Denn in Deutschland, dem Land der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, in dem Politiker den direkten Weg von der sozialdemokratisierten Gesamtschule zur Massenuniversität und dann in den Parteiapparat gehen, wo man zwar permanent das Selbstdenken beschwört. Aber jeder verdächtig erscheint, der es wirklich tut, wo man von Exzellenz redet, wenn man Mittelmaß meint und Individualität nur dann akzeptiert wird, wenn sie konformistisch daher kommt. Hier stößt ein Boris Johnson fast zwangsläufig auf Ablehnung. 

Kleinbürgerei trifft auf Freigeist

Insofern sind die Reaktionen aus Deutschland auf die Wahl des neuen Premiers mehr als entlarvend. Und das nicht nur, weil hier das Land institutionalisierter Engstirnigkeit und Kleinbürgerei auf einen aristokratischen Anarchisten und Freigeist trifft, dem die Moralvorstellungen des deutschen Neuspießertums ziemlich schnuppe sind. Johnson irritiert hierzulande auch deshalb so mächtig, weil er ein Liberaler in allerbester britischer Tradition ist, ein Mann der Freiheit, der sich nicht hinter irgendwelchen Bindestrich-Liberalismen verbirgt, die mit Freiheit wenig, mit Indoktrination der Mitmenschen aber umso mehr zu tun haben.
Besonders komisch wird es, wenn hierzulande selbsternannte Weltbürger Boris Johnson der Provinzialität und der Borniertheit zeihen. Denn kaum einer repräsentiert von Habitus, Herkunft, Ausbildung und Werdegang wahres Kosmopolitentum besser als der ehemalige Londoner Bürgermeister. Doch es ist kennzeichnend für den deutschen Provinzialismus, Weltbürgertum mit internationalistischer Ideologie zu verwechseln. Dass das Großsprecherische und Auftrumpfende dabei an imperiales römische Sendungsbewusstsein erinnert, Englands trotziges Autonomiestreben hingegen an griechischen Freiheitswillen, erklärt viel über das Unverständnis, auf das der Philhellene Boris Johnson bei den deutschen Politbiedermeiern stößt.

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