Donnerstag, 10. Januar 2019

Die herrschende Klasse

Die herrschende Klasse

In meinem letzten Beitrag des alten Jahres habe ich den Begriff der "herrschenden Klasse" benutzt. Das führte zu einigen Anmerkungen und Nachfragen bei den Leserzuschriften. Ich möchte den Begriff kurz erläutern.
Um sich der herrschenden Klasse anzunähern, kann man den Umweg über einen Karl Marx zugeschriebenen Satz nehmen (den er aber so nie gesagt hat): „Die herrschende Meinung ist immer die Meinung der Herrschenden." Der Satz wirft zumindest ein Licht auf die Bedeutung einer unabhängigen Presse, die im Idealfall eben nicht die Meinung der Herrschenden perpetuieren sollte. Gleichzeitig deutet der Satz an, dass man auf eine unabhängige Presse nicht unbedingt hoffen sollte.
Definieren wir also die Vertreter der herrschenden Meinung als die herrschende Klasse, dann gehört zwangsläufig die Gegenseite dazu, nämlich die Klasse der Beherrschten. In der Theorie der Demokratie ist die Vertreterin der beherrschten Klasse die Opposition. Da sie nicht über die geeigneten Macht- und Meinungsmittel verfügt, ist ihr schärfstes Schwert die Moral. Die beherrschte Klasse kann die herrschende Klasse nur mit dem Instrument des moralischen Vorwurfs vor sich hertreiben und in die gewünschte Richtung lenken. Deswegen ist die vierte Säule der Demokratie, die freie Presse, so eminent wichtig.
Die Aufgabe der Presse ist es, der beherrschten Klasse eine Stimme zu geben. Sie ist, wenn man es pathetisch formulieren will, die Stimme der Moral. Ohne den moralischen Resonanzboden würde Presse nur das Verlautbarungsorgan des Bestehenden sein können. Die Schere zwischen der realen Beschaffenheit und der idealen Bestimmung ist der journalistische Raum, aus dem die Herrschenden kritisiert werden und die Beherrschten eine Stimme erhalten.

Die Grünen können sich als Partei der Hochmoral gerieren

In den westlichen Demokratien haben wir uns angewöhnt, die hehre Moral links zu verorten und den schmutzigen Pragmatismus rechts. Solange dieses Koordinatensystem galt, konnte die Presse ihrer Aufgabe nur gerecht werden, indem sie sich als links begriff. Deswegen wurden, wenn man auf Deutschland blickt, linke Regierungen, die bei Bundestagswahlen die Mehrheit erringen konnten, sehr schnell pragmatisch rechts und von der Presse gejagt. Ob Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder: die pragmatischen Linien ihrer Politik haben vor allem die Linken auf die Barrikaden gebracht. Sie waren es, die ihre Moral verraten fühlten.
Der Niedergang der Volkspartei SPD mit inzwischen Wahlergebnissen um 20 Prozent ist das Ergebnis davon, dass man ihnen ihre eigene Moral des "sozialen Ausgleichs" nicht mehr glaubt. Das Mysterium, dem wir alle in Deutschland seit 2005 jedoch beiwohnen, ist ein anderes: Jene Partei, die ebenso wie die SPD für den ersten Krieg von deutschem Boden nach 1945 und wichtiger noch: die ebenso wie die SPD für die Agenda 2010 verantwortlich zeichnet, ist unbeschadet aus dem moralischen Gewitter der Presse hervorgegangen. Noch immer können sich die Grünen als Partei der Hochmoral gerieren, und das obwohl es keine andere Partei in Deutschland gibt, die mehr für soziale Arroganz und elitäres Akademikertum steht als eben diese Grünen. Ihr faszinierendes Erfolgsrezept war und ist es, sich gleichzeitig als oppositionelle Moral wie auch als herrschende Partei zu etablieren.
Das System Merkel seit 2005 zeichnet sich durch die Vereinnahmung scheinbar linker Positionen aus. Das ist aber nur die Außenseite. In Wahrheit hat die CDU unter Angela Merkel das Erfolgsrezept der Grünen kopiert: die moralische Aufgeladenheit einer Oppositionspartei mit einem autoritären Herrschaftsapparat zu vermählen. Die Mechanismen, dies zu erreichen, waren vielfältig, zwei Parameter jedoch waren entscheidend: zum einen das zeitgeistige Vorurteil, eine Frau an der Spitze des Landes wäre bereits per Geschlecht die Repräsentantin einer höheren Moral; und zum anderen die Spaltung in "Wir", die guten Demokraten, und "Sie", die bösen Rechten. Die Überhöhung und Dramatisierung dieser Spaltung verwandelt die Regierungsparteien in die letzten moralischen Bollwerke gegen eine drohende Machtergreifung und verleiht ihnen einen quasi-oppositionellen Heiligenschein.

Regierende gleichzeitig als Herrschende und Opposition

Dadurch, dass sich die Regierenden gleichzeitig als Herrschende und als Opposition aufführen, hat sich die herrschende Meinung verdoppelt. Kritik an den Herrschenden kann derart entweder als inhuman und unmoralisch oder als defätistisch und demokratieschädlich zurückgewiesen werden. Die Kongruenz von Moral und Regierungshandeln war immer schon ein signifikanter Hinweis auf totalitäre Strukturen. Die Beherrschten haben keine Möglichkeit der Kritik mehr und sind ihrer Stimme beraubt.
Man kann fast jedes beliebige Großvorhaben der Politik seit 2010 vor diesem Hintergrund der Vermählung von Macht und Hochmoral als Beispiel anführen. Am deutlichsten wird es jedoch, wenn man sich an die politischen und journalistischen Reaktionen auf das Auftreten der sogenannten Rechtspopulisten um 2014 erinnert. Mit einer atemberaubend elitär-asozialen Sprache wurde dieser unbekannte Protesttypus, der vornehmlich im Osten auftrat, ausgegrenzt: Pack, Abgehängte, Verlierer, Zurückgebliebene, Zukurzgekommene. Egal ob all diese Zuschreibungen einen wahren Kern haben, entscheidend ist, mit welcher verbalen Eiseskälte die politisch-journalistische Klasse den sogenannten Bodensatz der Gesellschaft beleidigt, erniedrigt und bekämpft hat.
Selbst wenn jeder Pegida-Mitläufer und jeder AfD-Wähler ein Abgehängter und Verlierer wäre, die politisch-journalistische Klasse, die ständig Einigkeit, Solidarität und sozialen Ausgleich im Mund führt, hat mit den von ihr gewählten Zuschreibungen ihre zutiefst asoziale Fratze gezeigt. Und keinen hat's gekratzt. Man sollte sich einfach im Umkehrschluss vorstellen, die FDP würde jeden Demonstranten auf einer DGB-Kundgebung als Pack und Verlierer bezeichnen. Was wäre dann los in Deutschland! Der Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts wird schon lange nicht mehr von der FDP repräsentiert, sondern von den Grünen. Moralische Selbstermächtigung und asoziale Arroganz sind noch nie so geschlossen marschiert wie in den letzten Jahren.

Die Linke ist nur noch grün

Die Linke in Deutschland ist schon lange nicht mehr links, sondern nur noch grün. Sie hasst mit einem Furor diejenigen, die vor wenigen Jahrzehnten noch als Proletariat galten und unter ihrem Schutz standen: die Abgehängten. Ihnen ist es inzwischen schnurzpiepe, wie hoch die Heizkosten steigen, wie weit man mit seinem Diesel noch fahren kann, wie teuer der Tabak wird und ob man sich die Pauschalreise nach Spanien noch wird leisten können. All das verachten sie so tief und vollumfänglich, weil ihre eigenen Lebensentwürfe damit überhaupt nichts mehr zu tun haben. Sie verstehen sich in Selbstoptimierung, in Akademisierung, Opfersprech und Genderequality. Die Pfründe, die sie verteidigen, sind die Pfründe einer neuen Elite, die ihren Adelsstand aus ihrer moralischen Hochbildung ableitet.
Zurück zur herrschenden Klasse! Deren herrschende Meinung ist weder links noch rechts. Sie ist schlicht: grün. Wir haben uns versündigt, wir müssen Buße tun, wir müssen uns entschuldigen, wir müssen alle aufnehmen und dabei das Klima und die Welt retten. So tönt es von der CDU über FDP und die SPD bis zu den Grünen und weiten Teilen der LINKE. Mit dieser Selbstanklage-Moral werden die politischen Großprojekte unterfüttert und werden die Rechtsbrüche, die diese Großprojekte notwendigerweise begleiten, abgesegnet. Ob Atomausstieg, Euro-Rettung oder Schutz der Landesgrenzen: das herrschende Prinzip der Politik lautet Entgrenzung bis zur Gesetzlosigkeit. Das ist das Projekt, an dem ein George Soros genauso arbeitet wie eine Annalena Baerbock. Und wer hätte noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten, dass globalistische Börsenspekulanten und die Dummchen der Grünen Jugend mal gemeinsame Sache machen würden?
Die herrschende Meinung versteht sich nicht mehr als politisch, sondern als universell. Sie ist moralisch wie auch pragmatisch. Wer das Brettspiel Mühle kennt, wird um einen Spielverlauf wissen, bei dem einer der beiden Spieler eine Zwickmühle errichtet hat. Mit dem Öffnen der einen Mühle kann er gleichzeitig eine andere Mühle schließen und dem Gegenspieler einen Stein wegnehmen. In diesem Zustand der Zwickmühle befindet sich die politische Kultur in Deutschland. Wenn die FAZ schreibt, dass wir Flüchtlinge brauchen, damit die Wirtschaft brummt, schreibt die taz, dass wir Flüchtlinge brauchen, um eine moralisch bessere Gesellschaft zu werden. Wenn die CDU den Atomausstieg und die galoppierenden Strompreise als Rettung der Welt vor dem Untergang verkauft, verlangen de Grünen im gleichen Atemzug, dass die CO2-Werte, die aufgrund des Atomausstieg nicht gesenkt werden konnten, zu Fahrverboten führen müssen. Und jedes Mal wird der beherrschten Klasse dabei ein Stein weggenommen.
Die Verdoppelung der herrschenden Meinung hat zuerst zu einem immer kleiner werdenden Korridor der Kritikmöglichkeit geführt. Inzwischen ist dieser Korridor so gut wie verschwunden. Übt man Kritik an der herrschenden Meinung, hat man nur noch die Wahl des Vorwurfs. Entweder ist man dann nationalistisch oder man ist fremdenfeindlich, entweder ist man islamophob oder undemokratisch, entweder ist man wirtschaftsfeindlich oder inhuman, entweder ist man ein Klimasünder oder ein Klimaleugner, entweder "geht's uns doch so gut" oder "dafür müssen wir uns aber schämen".
Wenn sie bis hierher mit dem Lesen durchgehalten haben, gehören sie ganz sicher nicht: zur herrschenden Klasse.
Das und noch viel mehr behandelt Markus Vahlefeld in seinem neuen Buch: Macht Hoch die Tür – Das System Merkel und die Spaltung Deutschlands, Oktober 2018, erhältlich hier: www.markus-vahlefeld.de

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